Vor dem Virus, hieß es zu Beginn der Corona-Pandemie, sind wir alle gleich: weil die Krankheit keinen Unterschied zwischen arm und reich macht. Aber das stimmt so nicht, wie sich beim "Lockdown" im Frühjahr gezeigt hat: Während sich die einen in die Isolation ihrer eigenen vier Wände zurückziehen konnten, mussten sich andere weiterhin der Gefahr einer Ansteckung aussetzen. Auch darum geht es in dem Dokumentarfilm "Welt auf Abstand", der Impressionen von allen Kontinenten miteinander verknüpft. Viele der vorgestellten Männer und Frauen sind Künstler, die auf ihre Weise versucht haben, den Auflagen der Behörden kleine Fluchten abzutrotzen. Sie alle beschreiben, wie sie die Zeit der Stille erlebt haben: die einen im Kreis ihrer Familie, die anderen allein mit ihrer Einsamkeit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Als Autoren- und Regieduo werden Cristina Trebbi und Jobst Knigge genannt, aber die einzelnen Beiträge stammen von unterschiedlichen Regisseurinnen und Regisseuren; einige der Protagonisten haben ihre Beiträge selbst gedreht. Die einzelnen Kapitel werden durch Aufnahmen miteinander verknüpft, die das Werk zum zeithistorischen Dokument machen: Berühmte Plätze in London, Paris oder New York, zu normalen Zeiten von Touristen bevölkert, sind völlig menschenleer; auf dem Times Square sitzt ein einsamer Saxophonspieler. Besonders eindrucksvoll sind die Bilder aus Venedig. Die Stadt wirkt ohnehin wie dem Tode geweiht. Nun sieht es so aus, als sei sie endgültig ihrem Schicksal und den Möwen überlassen worden.
Der besondere Reiz des Films liegt in der Entdeckung von Parallelen und Unterschieden. Die Rahmenbedingungen mögen ähnlich sein, aber alle versuchen auf ihre Weise, das Beste daraus zu machen: Eine Tangolehrerin aus Buenos Aires unterrichtet nun online, eine Kunsttherapeutin aus Melbourne verarbeitet die Zwangspause mit Hilfe von Collagen, ein Rapper aus einer Favela in Rio de Janeiro kleidet den Unmut seiner Mitbürger in Reime, eine DJane aus Berlin veranstaltet illegale Raves unter freiem Himmel. Aber die Künstlerinnen und Künstler sind auch Mütter und Väter, Töchter und Söhne, und deshalb haben sie den gleichen Kummer wie alle anderen: Kinder müssen ihren Geburtstag allein feiern und vermissen ihre Großeltern. Ein Schriftsteller aus New York ist während des "Lockdowns" via Zoom geschieden worden und leidet darunter, keine Mitmenschen mehr berühren zu dürfen. Er vergleicht die Stimmung in der Stadt mit dem 11. September 2001, als sich nach den Anschlägen aufs World Trade Center niemand mehr nach draußen traute und in den Straßenschluchten nur noch die Sirenen von Polizei und Rettungswagen zu hören waren. Ein Südafrikaner aus Kapstadt berichtet, dass er anfangs glaubte, Corona sei eine weiße Krankheit; bis er sich ebenfalls infizierte, was besonders fatal war, weil er mal Tuberkulose hatte und seither nur noch einen Lungenflügel besitzt.
Vielen Menschen dürfte in diesen Zeiten der Glaube helfen, doch davon ist seltsamerweise kaum die Rede. Für das einzige spirituelle Element sorgt der Hauptpriester eines japanischen Tempels, der den Menschen empfiehlt, achtsam in die Natur zu gehen und ein Gespür dafür zu entwickeln, wie Pflanzen und Tiere kommunizieren. In den Appellen dieser Art liegt der Mehrwert des Films: Gleich mehrere Protagonisten versichern, sie hätten während der Pandemie die kleinen Dinge des Alltags zu schätzen gelernt. Das Leben, sagt eine indische Filmemacherin aus Bangalore, "ist keine ‚To do’-Liste, sondern das, was sich zwischen zwei Aufgaben ereignet." Der Priester aus Yokosuka fürchtet zwar, auf Covid-19 würden Covid-20 und Covid-21 folgen, aber er hofft, dass sich auch der Mensch weiterentwickeln und das Virus auf diese Weise "eine Pandemie aus Freundlichkeit, Liebe und Rücksicht" auslösen werde.
Eine schöne Utopie, die Trebbi und Knigge aber immer wieder mit der Realität konfrontieren. Die Bilder, die sie zwischendurch zeigen - ein scheinbar endloses Feld mit Grabkreuzen, eine riesige Halle voller Betten, die auf Patienten warten, eine ganze Hundertschaft von Menschen in Schutzanzügen - sprechen eine andere Sprache. Dass "Welt auf Abstand" trotzdem Mut macht, liegt an Persönlichkeiten wie einem Hamburger Schulrektor, der einen "digitalen Pausenhof" eingerichtet hat. Er selbst führt als "Late Night"-Moderator durch Sendungen mit Beiträgen seiner Schülerinnen und Schüler und wirkt dabei keineswegs peinlich, sondern im Gegenteil ziemlich cool; ein Beispiel, das gern Schule machen kann.