Allerdings ist nicht ganz klar, ob es sich bloß um eine lautstarke Minderheit handelt oder ob die Schreihälse einer Mehrheit aus dem Herzen sprechen. In seiner Dokumentation "Die Deutschen und der Holocaust – Schluss mit Schlussstrich?" stellt Felix Brumm daher die Gretchenfrage: Wie halten’s die Deutschen mit der Erinnerungskultur? Wie groß ist die Gefahr eines Rückfalls?
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Antwort wird all’ jene frustrieren, die der Meinung sind, die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten sollte dringend lebendig bleiben. Tatsächlich lässt sich als Fazit des Films konstatieren: Diese Erinnerung war von Anfang an ein schöner Schein, denn sie ist nicht von unten gewachsen. Das Gedenken, sagt der Sozialpsychologe Andreas Zick, Leiter des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, habe überwiegend in der Öffentlichkeit stattgefunden und nur in Ausnahmefällen auch in den Familien. Anfangs hatten die Menschen buchstäblich alle Hände voll damit zu tun, die Städte wiederaufzubauen. In den Fünfzigerjahren ging es endlich wieder aufwärts, das Land feierte das Wirtschaftswunder und frönte beim Heimatfilm der fröhlichen Verdrängung. Eine Aufarbeitung fand erst in den Sechzigern statt, als Studierende ihre Väter fragten, was sie im Krieg gemacht hätten.
Seither ist das Thema offenbar für die meisten Deutschen erledigt, wie Brumm mit den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage belegen kann. 28 Prozent der Befragten schließen sich einer Forderung des Thüringer AfD-Faschisten Björn Höcke an, es solle "endlich Schluss mit Mahnen und Gedenken" sein; und diese Zahl heißt im Umkehrschluss selbstredend nicht, dass 72 Prozent der gegenteiligen Meinung seien. 81 Prozent der Befragten sind überzeugt, die meisten Deutschen hätten zur Zeit des Nationalsozialismus nichts vom Holocaust gewusst, wobei ergänzend angefügt werden muss, dass erschreckend viele mit diesem Begriff gar nichts anfangen können.
Brumm kombiniert diese Zahlen mit diversen Gesprächen, in denen die unterschiedlichsten Aspekte des Themas angesprochen werden. Neben ihrer Vielschichtigkeit beeindruckt die Dokumentation nicht zuletzt durch die gute Auswahl der Expertinnen und Experten. Stephan J. Kramer zum Beispiel ist besonders prädestiniert, zu diesem Themenkomplex Stellung zu nehmen: Bevor er 2015 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes wurde, war er zehn Jahre lang Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland. Nicht minder kompetent ist Jens Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar. Ihre Stellungnahmen bilden gewissermaßen den Rahmen für die weiteren Aussagen und tragen auf diese Weise ihren Teil dazu bei, dass die Sendung nicht sprunghaft wirkt.
Es ist ohnehin erstaunlich, dass sich Brumm nicht verzettelt hat. Es ist ihm auf eindrucksvolle Weise gelungen, die vielen Aspekte, mit denen er sich befasst, trotz einer Filmlänge von nur 45 Minuten Tiefe seriös auszuloten. Die Mordserie des sogenannten NSU, die Bedeutung von Gedenkstätten, Antisemitismus in digitalen Medien, der Prozess gegen den Attentäter von Halle, Gespräche junger Jüdinnen mit Schülerinnen: Das hätte leicht sprunghaft wirken können, aber der Autor integriert all’ diese Punkte in ein schlüssiges Konzept, das immer wieder geschickt die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft. Auf diese Weise lassen sich sogar Zusammenhänge zwischen der Judenverfolgung im "Dritten Reich" und modernen Verschwörungsmodellen ziehen, zumal sich die verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen in einem ständigen Aufmerksamkeitswettbewerb befinden.
Auch handwerklich bewegt sich der Film wie so viele Dokumentationen von ZDFinfo auf hohem Niveau; das gilt für die Einbettung von Originalaufnahmen ebenso wie für die grafische Aufbereitung. Besonders erschreckend ist ein Bild, das die rechten Netzwerke mit einem unterirdisch wachsenden und daher nicht sichtbaren weitverzweigten Pilzgeflecht vergleicht. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!", schrieb Bertolt Brecht einst in seinem 1958 uraufgeführten Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui". Daran hat sich gut sechzig Jahre später nichts geändert. Gerade junge Menschen sind heute womöglich deutlich anfälliger als früher: Wagner spricht von einem "geschichtspolitischen Klimawandel", Zick von "unfassbare Defiziten" bei der politischen Bildung.