Kaltblütig erschießt sie diffuse Gestalt hinterm Lenkrad – und erwacht schreiend. Sie hat diesen Alptraum jede Nacht. Später stellt sich raus, dass der Mann am Steuer ihr Partner Butsch Schulz ist. Der Kollege schläft in dieser Nacht ebenfalls nicht gut: Eine düstere Kapuzengestalt lungert vor seiner Wohnungstür rum. Der Prolog ist der perfekte Auftakt für die siebte Episode der ARD-Reihe mit Yvonne Catterfeld und Götz Schubert. Er setzt ein Spannungsniveau, das der Film dank der Action-Musik von Andreas Weidinger und einer vortrefflichen Bildgestaltung (Timo Moritz) neunzig Minuten lang durchhalten wird, zumal auch die Geschichte sehr interessant ist: Im Kessel einer stillgelegten Hefefabrik wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie gehörte zur Görlitzer "Escape Game"-Szene: Die Teilnehmer müssen Rätsel und Aufgaben lösen, um einen Raum oder ein Gebäude verlassen zu können. Offenbar hatte die Frau die Fabrik als neuen Spielort sondiert. Während Schulz und Delbrück ermitteln, wird eine alte Frau (Monika Lennartz) Opfer eines perfiden Betrugs: Ein Anrufer, der sich als Hauptkommissar Schulz ausgibt, erklärt ihr, ihre Wohnung sei das Ziel von Einbrechern, bietet ihr aber an, ihre Wertsachen aufzubewahren, bis die Gefahr vorüber sei.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das klingt zwar zunächst nicht weiter aufregend, aber ein weiteres Element sorgt dafür, dass der Fall für Schulz keine gewöhnliche Mordermittlung ist. Bislang waren die "Wolfsland"-Episoden ohnehin immer dann am besten, wenn eine der beiden Hauptfiguren persönlich involviert war. Die Tote trug die Jacke ihrer besten Freundin. Schulz ist daher überzeugt, dass der Mord in Wirklichkeit Sandra (Tijan Marei) galt, zumal er der jungen Frau noch was schuldig ist; mit ihrer Hilfe hat er einen Zuhälter in den Knast gebracht. Delbrück sieht die Sache ganz anders, für sie der Schützling des Kollegen hochgradig verdächtig. Sie glaubt an Mord aus Eifersucht, weil das Opfer Sandra den Freund (Alexander Finkenwirth) ausgespannt hat. Dass der junge Mann kurz drauf erschlagen aufgefunden wird, wertet die Kommissarin als weiteren Beleg für ihre These. Selbstverständlich liegen die Dinge völlig anders, und natürlich hat es seinen Grund, dass Regisseur Till Franzen immer wieder den Erzählstrang mit der um ihre Ersparnisse gebrachten alten Dame einfädelt. Tatsächlich scheint die Spur sogar von der Gamer-Szene wegzuführen; umso überraschender ist schließlich die Auflösung, als das Autorenduo Sönke Lars Neuwöhner und Sven S. Poser, die bislang alle "Wolfsland"-Filme geschrieben haben, die beiden Ebenen zusammenfügt.
Der eigentliche Reiz des Films liegt jedoch in der Atmosphäre einer ständigen Bedrohung, die schon den Prolog prägte. Schulz fühlt sich ebenso verfolgt und beobachtet wie Sandra; auch das schweißt die beiden noch enger zusammen. Der Titel bezieht sich auf eine Botschaft, die in die Wohnungstür des Kommissars geritzt ist. Zusätzliche Brisanz erhält die Geschichte durch die gereizte Stimmung zwischen dem Ermittlerduo: Die zu Beginn der Reihe aus Hamburg in die Oberlausitz versetzte Delbrück will Görlitz wieder verlassen, ihr Versetzungsgesuch liegt bereits unterschrieben auf ihrem Schreibtisch, und Schulz, der sich gern ruppig gibt, versichert ihr, er werde sie nicht aufhalten. Seine Laune verschlechtert sich noch, als er mitbekommt, wie die Kollegin auf die Flirts eines Sozialarbeiters reagiert. Daniel Hölzer (Christoph Letkowski) will aus der Hefefabrik eine Art Abenteuerspielplatz für Jugendliche machen. Er ist es auch, der das Duo aus einer höchst misslichen Lage befreit: Als Delbrück den Kollegen zur abendlichen Aussprache in den Kessel bittet, werden die beiden eingeschlossen. Schulz glaubt, Hölzer war’s, und attackiert den Mann am nächsten Morgen, aber der offenbar nahkampferprobte Sozialarbeiter kontert den Angriff; und Delbrück lässt sich auf eine Romanze ein, die auch im zweiten Film weitergeht.
Neben dem Drehbuch mit seinen vielen unerwarteten Wendungen, der durchgehend guten elektronischen Musik und der auffallend sorgfältigen Lichtsetzung imponiert "Kein Entkommen" vor allem durch Franzens Arbeit mit den Schauspielern, die eben nicht den Eindruck erwecken, als spielten sie. Gerade das klärende Gespräch von Schulz und Delbrück im Kessel ist von großer Intensität. Sehr schön sind auch die unnachahmlichen Auftritte von Stephan Grossmann als Vorgesetzter, der sich vernachlässigt fühlt, weil ihn niemand auf dem Laufenden hält. Vierter im Kripo-Bunde ist Hintergrundermittler Böhme (Jan Dose), der ständig ungefragt versichert, er sei nicht in Delbrück verliebt. Aus dem weiteren Ensemble ragt vor allem Tijan Marei heraus. Sie setzt damit ihre bemerkenswerten Leistungen als Titeldarstellerin der ZDF-Produktionen "Schneewittchen und der Zauber der Zwerge" (2019) und "Das Mädchen am Strand" (2020) fort. Till Franzen wiederum hat zwar schon einige richtig gute Krimis gedreht, etwa "Im Tal des Fuchses" (2020) nach Charlotte Link oder die "Nord bei Nordwest"-Episode "Der Transport" (2017), war aber mit "Irrlichter" (2018) auch für einen der deutlich schwächeren "Wolfsland"-Filme verantwortlich. In seiner Filmografie finden sich zudem einige sehenswerte Freitagskomödien ("Drei Väter sind besser als keiner", 2016, und "Hausbau mit Hindernissen", 2017); auch in "Kein Entkommen" gibt es einige unerwartet heitere Momente. Der Film endet mit einem cleveren Cliffhanger, der erfolgreich die Neugier auf die Fortsetzung schürt.