"Werdet!" Bei der Übersetzung des griechischen Verbs ginomai ist sich Wolfgang Baur, Vorsitzender der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) ganz sicher. Hier, am Anfang der Jahreslosung für 2021, müsse es "Werdet barmherzig" heißen und nicht "Seid barmherzig". Denn: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist", damit würde Jesus die Menschen überfordern, meint der katholische Theologe. Übersetze man dagegen ginesthe (so der Imperativ) mit "Werdet", dann klinge Jesu Aufforderung zum Barmherzigwerden viel sanfter: "Ihr könnt klein anfangen, ihr könnt‘s probieren. Man darf sich trauen, es langsam zu lernen."
Die Jahreslosung für 2021 steht im Kontext der so genannten Feldrede im Lukasevangelium (Kapitel 6), das ist eine Parallele zur bekannteren Bergpredigt bei Matthäus. Doch die Feldrede enthält neben Seligpreisungen auch Weherufe von Jesus. "Er sagt: Wenn ihr das nicht tut, dann gibt’s Verletzungen", erläutert Wolfgang Baur. In gewissem Sinne ist die Feldrede also strenger, unnachsichtiger als die Seligpreisungen, wenn sie Werte wie Zuwendung und Solidarität, Nächstenliebe und Feindesliebe einfordert. "Hier sind einfach Grundverhaltensweisen christlicher Existenz genannt, die die Welt braucht, und die auch für das Christentum ausschlaggebend sein sollen."
ÖAB-Hauptversammlung diskutiert über Vorschläge
Die Jahreslosung wird – anders, als der Name vermuten lässt – nicht ausgelost, sondern von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen gewählt. Die Mitgliedsverbände reichen Vorschläge ein, über die in der Hauptversammlung diskutiert wird. Schließlich einigen sich die Mitglieder auf ein Bibelwort, das sie dann entweder aus der katholischen Einheitsübersetzung oder aus der evangelischen Lutherbibel zitieren. Die Jahreslosung für 2021 lautet in beiden Bibeln gleich: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!" (Lukas 6,36)
Andere Übersetzungen geben den Vers sehr ähnlich, oft wortgleich wieder. Die Gute Nachricht Bibel traut sich, das griechische ginomai tatsächlich mit "werden" zu übersetzen, die Elberfelder Bibel enthält immerhin eine entsprechende Anmerkung. Nur die Bibel in gerechter Sprache macht einen ganz anderen Vorschlag: "Habt Mitleid, wie auch Gott Mitleid übt", so lautet Lukas 6,36 hier. Mitleid haben – ist das dasselbe wie barmherzig sein? Wolfgang Baur meint: Nicht ganz. "Mitleid, das klingt so ein bisschen von oben nach unten", meint er. "In dem griechischen oiktirmon dagegen schwingt ein Seufzen mit, also eine Empathie. Nicht bloß ein Sehen des anderen, sondern ein Mitfühlen, sich Hineindenken, sich Hineinfühlen in den anderen. Dieses oiktirmon, das ist auf Augenhöhe."
Gott als Vater, Gott als Mutter
Zwar ist die Jahreslosung für 2021 dem Neuen Testament entnommen, doch wer Bibelwissenschaften betreibt, denkt bei "oiktirmon – barmherzig" sofort an das entsprechende Wort im Alten Testament. Die hebräische Wurzel racham hat als Verb die Bedeutung "sich jemandes erbarmen". Als Substantiv rächäm hat das Wort zwei Bedeutungen, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben: in der Einzahl "Mutterschoß"/"Gebärmutter", in der Mehrzahl "Inneres"/"Eingeweide" und zugleich "Barmherzigkeit"/"Erbarmen". Für die hebräische Bibel ist das gar nicht unlogisch: Immer wieder bringt sie Aspekte des menschlichen Lebens mit der Regung von Organen oder Körperteilen zusammen: So steht das Herz für das Denken, die Kehle für die Bedürftigkeit, der Fuß für Kraft.
Im Falle der Barmherzigkeit regt sich also die Gebärmutter. Weihbischof Thomas Maria Renz aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart deutet das in seiner Auslegung der Jahreslosung so: "Die Gefühle, die eine Mutter empfindet, die ihr Neugeborenes zum ersten Mal in den Händen hält, (…) kommt der eigentlichen Bedeutung des Begriffs 'Barmherzigkeit' im Sinne von 'zärtlichem Erbarmen' am nächsten. So lässt sich auch das Verhältnis des (…) himmlischen Vaters zu seinen Kindern (…) am besten beschreiben." Gott als Vater, Gott als Mutter – es läuft auf dasselbe hinaus: "Gott (…) lässt in sein Herz blicken", schreibt Pastor Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche", in seinen Gedanken zur Jahreslosung: "Liebe, das ist die prägende Eigenschaft des Gottes, der nichts anderes vor Augen hat als seine Kinder. Diese Liebe mündet in Barmherzigkeit, die die Grundlage seines Handels ist. Lassen wir uns von der Liebe Gottes inspirieren, dann werden aus Worten Taten. Lieben wir ihn, dann können wir nicht mehr achtlos an unseren Mitmenschen vorbeigehen."
"Lukasevangelium ist wie so ein Stoßpendel"
Gottes Barmherzigkeit zu erkennen, "das führt eigentlich automatisch dazu, dass ich mich herausgefordert fühle, zu handeln, mich zu bewegen", meint auch Wolfgang Baur von der ÖAB. Er nennt ein Gleichnis aus der Welt der Physik: "Es gibt ja diese aufgehängten Stoßpendel, wo eine Kugel die andere anstößt. Das Lukasevangelium ist wie so ein Stoßpendel. Lukas zeigt, wie Jesus Menschen Anstöße gibt und wie sie sich dadurch selbst bewegen sollen." Deswegen ist die Jahreslosung für Baur "eigentlich auch ein Stück Begründung von diakonischer Existenz von Kirche".
Wer sich durch die Jahreslosung 2021 zum Mitfühlen und Handeln anstoßen lassen möchte, hat leider mehr als genug Ansatzpunkte: "Das Unbarmherzige, Kantige, Harte wird immer schwieriger", meint Baur. "Konkurrenz wird schärfer, Unterschiede zwischen arm und reich, zwischen Macht und Ohnmacht größer. Es werden neue Feindbilder kreiert, das Blöckedenken kommt wieder", zählt er die globalen Probleme auf, die die Mitglieder der ÖAB bei der Auswahl der Losung für 2021 vor Augen hatten. "Barmherzigkeit ist eine Notwendigkeit in unserer Zeit wie kaum eine andere."