Als die Willkommenskultur des Jahres 2015 abebbte und sich immer mehr Menschen sorgten, wo all’ die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und anderswo unterkommen sollen, ist oft auf die Nachkriegszeit verwiesen worden: Damals habe es Deutschland geschafft, 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie aus Ost- und Südosteuropa zu integrieren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mit diesem Mythos hat Dörte Hansen in ihrem Romandebüt "Altes Land" gründlich aufgeräumt: Die Migranten waren alles andere als willkommen; Hauptfigur Vera, 1945 als Fünfjährige mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen, fühlt sich bis zu ihrem Lebensende fremd in der neuen Heimat. In der Verfilmung von Regisseurin Sherry Hormann, die die Vorlage selbst adaptiert hat, werden Hildegard von Kampcke (Birte Schnöink) und ihre Tochter von Bäuerin Ida (Karoline Eichhorn), auf deren Hof sie einquartiert werden, als "Polacken" und "Schmarotzer" begrüßt. Es dauert nicht lange, bis sich die Befürchtungen der Frau mehr als bewahrheiten. Hildegard heiratet ihren Sohn Karl (Kilian Land) und stellt ihn vor die Wahl: "deine Mutter oder ich". Ida beantwortet die Frage auf ihre Art sehr endgültig.
Hormann hat aus der ohnehin eher unromantischen Vorlage, die nicht zuletzt mit der neuen Landlust der Deutschen abrechnet, einen denkbar düsteren Zweiteiler gemacht; aber das ist nicht das Problem des Films. Die Erzählung ist gerade im gestern ausgestrahlten ersten Teil (zu sehen in der ZDF-Mediathek) ständig zwischen Gegenwart und Nachkriegszeit hin und her. Das ist als dramaturgisches Konzept gerade für historische Stoffe zwar nicht ungewöhnlich, aber da Hormann die Geschichte ohnehin sehr episodisch strukturiert hat, wird der Handlungsfluss immer wieder unterbrochen. Sollte diese äußere Zerrissenheit ein Spiegelbild von Veras Innenwelt darstellen, so ist immerhin das gelungen, zumal deutlich wird, welche Folgen die einstige Entwurzelung auch für die nächste Generation hat.
Zweite Hauptfigur neben der alten Vera (Iris Berben) ist zunächst ihre deutlich jüngere Halbschwester Marlene (Nina Kunzendorf) aus der zweiten Ehe der gemeinsamen Mutter. Die beiden Frauen sind einander so fremd, wie es womöglich nur Geschwister sein können. Auch dafür gibt es eine treffende Szene, als Vera der jüngeren einen Aktenordner mit Hildegards Briefen überlässt: Marlene weiß nichts über die ostpreußische Vergangenheit der Familie; nicht mal, dass es einst drei Halbbrüder gegeben hat. Weil die beiden Frauen eher wie Mutter und Tochter als wie Schwestern wirken, repräsentiert Marlenes Tochter Anne (Svenja Liesau), die dritte weibliche Hauptfigur, quasi die dritte Generation.
Womöglich hätte es dem Film gut getan, wenn Hormann ihren Schwerpunkt auf die Gegenwart gelegt hätte, aber die Rückblenden nehmen in Teil eins einen immer größeren Raum ein: Der kriegsversehrte traumatisierte Karl hat Vera wie sein eigenes Kind aufgezogen. Als Hildegard ihn verlässt, verliert er auch seinen ohnehin nur noch schwach ausgeprägten Lebensmut; Vera kann im letzten Augenblick verhindern, dass er sich wie zuvor schon seine Mutter das Leben nimmt. Die nunmehr von Maria Ehrich verkörperte junge Frau verliebt sich in Hinni (Marius Ahrendt), der auch gut sechzig Jahre später noch ihr Nachbar ist. Die Szenen mit Iris Berben und Peter Kurth gehören zu den besten und deuten an, was aus "Altes Land" hätte werden können. So jedoch vertut der Film viel zu viel Zeit mit oberflächlichen Nebenschauplätzen. Ein aufs Land gezogenes Schickeria-Paar (Henny Reentz, Matthias Matschke) soll für die von Hansen satirisch aufs Korn genommene Sehnsucht nach der Scholle stehen, bekommt aber keinerlei Tiefe. Genauso überflüssig ist der Handlungsstrang mit Nachbarin Britta (Lina Beckmann) und ihrem cholerischen Ehemann, die ähnlich unmotiviert in die Handlung einfallen wie in den Rückblenden Hinnis Vater (Ronald Kukulies), der Veras Abifeier mit einem widerwärtigen Auftritt sprengt.
Die zweiten neunzig Minuten sind allerdings weit weniger sprunghaft und wirken daher viel mehr aus einem Guss. Im Zentrum des Films steht nun die Beziehung zwischen Vera und Anne: Die junge Frau hat ihren Freund (Jacob Matschenz) beim Seitensprung erwischt und bittet ausgerechnet ihre misanthropische Tante um Asyl. Prompt prallen zwar zwei Welten aufeinander, aber die dickschädelige Nichte ist Vera äußerst sympathisch. Dass diese Szenen so gut funktionieren, hat auch viel mit Svenja Liesau zu tun. Die Bühnenschauspielerin ist hier in ihrer ersten TV-Rolle zu sehen und eine echte Entdeckung. Die emotionalsten Momente des zweiten Teils sind dennoch die Szenen mit dem mittlerweile uralten Karl: Milan Peschel hat zwar kaum Dialog, verkörpert den Mann aber auf ungemein berührende Weise.
Ähnlich lakonisch sind die gemeinsamen Momente von Vera und Hinni. Die beiden gehören eigentlich zusammen, sind aber dennoch unterschiedliche Wege gegangen. Die Erklärung, warum aus der zuversichtlichen jungen Zahnärztin von einst eine verbitterte alte Frau geworden ist, bleibt Hormann allerdings schuldig. Immerhin schließt sie schließlich den Kreis, als Marlene mehr über die Wurzeln der Familie erfahren will. In einer ebenso eindrucks- wie kunstvollen Einstellung dient Nina Kunzendorf quasi als Leinwand für einen Dokumentarfilm über die Flucht aus Ostpreußen; anschließend fährt Marlene gemeinsam mit ihrer Tochter ins einstige Masuren.