Sorgt dort das bayerische Alpenvorland für das unverzichtbare Augenfutter, so gibt es hier derart viele Kameraflüge über die Nordseeküste (gedreht wurde rund um Büsum und St. Peter Ording sowie auf Helgoland), dass als Arbeitstitel auch "Schlewsig-Holstein von oben" getaugt hätte. Ohne die allerdings sehr schönen Luftaufnahmen sowie weitere mit gefälliger Musik unterlegte Kalenderbilder (Sonnenauf- und -untergänge, Fauna und Flora) wäre gerade der erste Film vermutlich nur noch halb so lang. Entsprechend übersichtlich ist die Handlung. Sie orientiert sich an jenem Schema, das viele Heimatdramen der für den Freitagsfilmplatz zuständigen ARD-Tochter Degeto prägt, allen voran Reihen wie "Weingut Wader" oder "Daheim in den Bergen": Frauen zwischen dreißig und vierzig behaupten sich in Männerwelten. Das Drehbuch bedient sich lauter bewährter dramaturgischer Klischees: Eine Familie rauft sich zusammen, um den Betrieb zu retten; und zum Schluss muss die Heldin ein Trauma überwinden, um die Handlung zu einem guten Ende zu führen. Diese Ansammlung von Versatzstücken überrascht, denn Autor ist immerhin Marcus Hertneck, der sich gerade für Degeto-Reihen wie "Reiff für die Insel" oder "Praxis mit Meerblick" schon viele gute Geschichten ausgedacht hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Kleine Schwester, großer Bruder" beginnt, selbstverständlich, mit einem Rundflug: Hauke Hansen (Jan-Gregor Kremp), Besitzer eines kleinen Privatflugplatzes in Büsum und einer eigenen Fluglinie, zeigt Touristen die Gegend. Zwischendurch wird seine Sicht unscharf: Er hat offensichtlich Probleme mit den Augen; später wird ein Grauer Star diagnostiziert. Für den Betrieb ist das fatal: Tochter Swantje (Nadine Boske) ist Flugzeugmechanikerin und hat ebenfalls eine Lizenz, traut sich seit einem Startunfall vor einigen Monaten aber nicht mehr zu fliegen. Da kehrt wie gerufen ihr Bruder heim: Sönke (Hannes Wegener), Typ Draufgänger und Schwerenöter, hatte eine Flugfirma in Russland und möchte nun wieder in der alten Heimat sesshaft werden. Vater Hauke ist derart begeistert von Sönkes Plänen, dass er dem verlorenen Sohn gleich mal das komplette Unternehmen überlassen will. Swantje wiederum ist angemessen empört, schließlich schmeißt sie den Laden seit geraumer Zeit. Als sie dann noch rausfindet, dass ihr Bruder den Flugplatz als Sicherheit für einen Kredit benutzt, das Geld aber keineswegs für Renovierungsarbeiten, sondern für die Begleichung alter Schulden verwenden will, hat sie die Faxen dicke und nimmt das Jobangebot eines Konkurrenten an. Freitagsfilmfans wissen: Das war exakt der Handlungskern des Auftakts zu "Weingut Wader".
Selbst die erfahrungsgemäß äußerst wohlwollende Zielgruppe des Sendeplatzes wird einräumen, dass die Geschichte etwas dünn ist; letztlich sind es tatsächlich die schönen Bilder (Kamera: Sonja Rom), die den Film retten. Die darstellerischen Leistungen sind ebenfalls in Ordnung, auch wenn es mitunter etwas aufgesetzt wirkt, wenn die Schauspieler eifrig vermeintlich typische Redewendungen der Küstenbewohner in ihre Dialoge einstreuen ("Lass’ doch mal die Fische im Wasser"). Fliegerweisheiten wie "Turbulenzen kommen immer unerwartet" sollen für weitere Authentizität sorgen. Die archaische Haltung des alten Hansen, der wie ein Bauer seinen Hof dem Erstgeborenen vererben will, wirkt zwar in der heutigen Zeit zumindest befremdlich, aber die Philosophie der Degeto-Geschichten ist mitunter ohnehin überraschend gestrig. Haukes Bemerkung, auf Frauen sei kein Verlass, lässt allerdings noch andere Motive vermuten; aber darum geht es erst in nächste Woche in Teil zwei.
Weil allein die Konflikte zwischen dem Trio nicht genug Stoff hergäben, schweben noch einige Satelliten durch die Handlung. Swantjes zwölfjährige Tochter Jule hat zunächst nicht viel zu tun, aber Marta Laubinger spielt das gut; sie läuft in der Fortsetzung ("Mütter und Töchter") zu richtig großer Form auf. Die weiteren Mitwirkenden sind hingegen letztlich bloß Stichwortgeber, Tiefe bekommen sie nicht. Das gilt auch für die Inszenierung. Regisseurin Kerstin Ahlrichs hat zuletzt mit drei Filmen für "Die Eifelpraxis" nicht verhindern können, dass die Degeto-Reihe ihren Zenit unübersehbar hinter sich hat. Vergleichsweise dramatisch ist immerhin das Finale, als Swantje mitten in ein Unwetter hinein starten muss, um den Naturschützer zu retten.