Hauptfigur der Geschichte ist Karl (Golo Euler), den der Tod seiner Eltern vor zehn Jahren kräftig aus der Bahn geworfen hat. Der Alkohol hat ihm alles genommen, seine kleine Tochter darf er nur noch unter Aufsicht treffen; viele Bilder wirken tatsächlich wie ein verfilmtes Delirium. Dank der speziellen Bildgestaltung von Kameramann Hanno Lentz, mit dem Dörrie seit "Kirschblüten" fast all’ ihre Spielfilme gedreht hat, bleibt die Geschichte stets in der Schwebe. Als Karl schließlich im Koma liegt, stellt sich sogar die Frage, ob die Ereignisse nicht bloß ein Hirngespinst waren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Handlung beginnt, als Karl kaum noch tiefer sinken kann und betrunken in eine Geburtstagsfeier seiner Tochter platzt. Kurz drauf steht unangekündigt Yu (Aya Irizuki) vor seiner Tür, die junge Japanerin, die sich um seinen Vater Rudi gekümmert hat, als der damals den Traum seiner verstorbenen Frau Trudi erfüllt hat und nach Tokio gereist ist. Yu möchte Rudis Grab besuchen und will wissen, wie er und Trudi gelebt haben. Also fährt Karl mit ihr ins Allgäu zum verwaisten Elternhaus und stellt sich auf diese Weise unfreiwillig seiner Vergangenheit, die ihn immer noch im Griff hat, wie die nächtlichen Begegnungen mit den Eltern (Hannelore Elsner, Elmar Wepper) nahelegen. Seit deren Tod hatte Karl keinen Kontakt mehr zu seinen Geschwistern, und auch das ändert sich nun, allerdings auf eher unerfreuliche Weise; Bruder Klaus (Felix Eitner) ist mittlerweile Funktionär in einer reaktionären Partei, sein Sohn Robert (Maximilian Ehrenreich) hat sich als sichtbaren Protest ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowieren lassen. Karls immer wieder durch schlaglichtartige Rückblenden illustrierte Kindheitserinnerungen sind ähnlich unangenehm. Für den Vater, der das Wort "sensibel" als Schimpfwort benutzt hat, war er ein Versager, und die Geschwister haben ihn dafür büßen lassen, dass er Mamas Liebling war.
Das sparsame Licht und die Kameraführung sorgen dafür, dass sich die familiäre Enge fast klaustrophobisch vermittelt. Die Schatten der Vergangenheit manifestieren sich in einer diffusen finsteren Gestalt, die stellenweise recht gruselig wirkt. Die düstere Anmutung des Films ändert sich erst, als Karl nach einer unfreiwillig in der Winterkälte verbrachten Nacht aus einem längeren Koma erwacht. Draußen ist Sommer, und plötzlich spricht er nicht mehr Bairisch, sondern Hochdeutsch. Er reist nach Tokio, um Yu zu suchen. Im Allgäu hatte die junge Japanerin versucht, ihn zu verführen, aber es war vor allem ihre Seelenverwandtschaft, die die beiden verbunden hat, nicht gegenseitiges Begehren. Im Haus von Yus Mutter (Kiki Kirin) erwartet Karl allerdings eine Überraschung, die die gesamte Handlung in neuem Licht erscheinen lässt, und endlich hat er die Kraft, sich fürs Leben zu entscheiden.
Auch wenn der Film nicht ganz die Qualität von "Kirschblüten – Hanami" erreicht, weil die Geschichte von Trudi und Rudi auch dank der famosen Leistungen von Hannelore Elstner und Elmer Wepper letztlich berührender war: Das Drama ist erneut ein großes Werk von Doris Dörrie, die mit Filmen wie "Männer" (1985) oder "Keiner liebt mich" (1994) und der TV-Serie "Klimawechsel" (2010) nun schon seit 35 Jahren zu den wichtigsten deutschen Regiekräften zählt. Die Kenntnis von "Kirschblüten – Hanami" (mit Maximilian Brückner als Karl) ist keine Voraussetzung, um der Fortsetzung folgen zu können, aber natürlich erschließt sich erst dann der ganze Reiz von "Kirschblüten & Dämonen": weil die nun aus Karls Perspektive gezeigten Eltern völlig andere Seiten offenbaren.
Dörrie bezeichnet die "tieftraurige Komödie" als asiatisch inspirierte Gespenstergeschichte, und das sicher nicht nur wegen der diversen Anspielungen auf einige Klassiker des japanischen Kinos. Was sie damit meint, offenbart sich spätestens in einer geisterhaften Familienaufstellung; sie verdeutlicht, welchen Stellenwert die Vergangenheit auch über mehrere Generationen hinweg noch hat. Auch deshalb ist die Rolle von Yu als Katalysator der Geschichte so wichtig. Die japanische Kultur pflegt einen ungleich entspannteren Umgang mit den Schattenwesen: Dämonen wird erst mal ein Tee angeboten.