Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten über solche Suizide in der Regel nur, wenn die Toten prominent sind; es gibt eine freiwillige Selbstbeschränkung, um Nachahmungseffekte zu vermeiden. Dieser Verzicht hat jedoch einen ungeahnten Kollateralschaden zur Folge, denn bei jedem Ereignis dieser Art gibt es zwei Opfer: den Menschen in den Schienen – und den in der Lokomotive. Weil der "Personenschaden" auch wegen der fehlenden Berichterstattung eine Art Tabuthema ist, kommt das Schicksal der Lokführerinnen und Lokführer in der Öffentlichkeit zu kurz; und schon deshalb ist die "37 Grad"-Reportage mit dem assoziativen Titel "Schatten im Gleis" aller Ehren wert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Katja Aischmann und Volker Schmidt stellen in ihrem Film zwei Männer vor, die erlebt haben, was im Jahr 2018 über 700 mal passiert ist: Sie haben mit ihren Zügen Menschen überfahren; "getötet", wie sie sagen, obwohl ihnen keinerlei Vorwurf zu machen ist. Die Wortwahl deutet schon an, wie schwierig es für die Lokführer ist, sich von einem derartigen Ereignis zu distanzieren: Sie fühlen sich schuldig. Erschwerend kommt hinzu, dass über das Thema auch unter Kollegen nicht gern gesprochen wird, obwohl die 30.000 Lokführerinnen und Lokführer statistisch ein bis zweimal im Verlauf ihres Berufslebens mit einem solchen Vorfall rechnen müssen. Gerade Männer scheuen offenbar davor zurück, über ihre Gefühle zu sprechen, um nicht als "Weichei" zu gelten, wie es gegen Ende der Reportage heißt.
Das war wohl auch bei Wolfgang der Fall. Er hat dreißig Jahre Berufserfahrung, aber professionelle Hilfe suchte er erst, nachdem sein Zug zum fünften Mal einen Menschen erfasst hatte. Aischmann und Schmidt durften ihn in eine psychosomatische Fachklinik begleiten, die auf solche Fälle spezialisiert ist. Ereignisse wie diese, sagt Wolfgangs Arzt, können zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen; ein Begriff, der zum Beispiel im Zusammenhang mit Heimkehrern aus Auslandseinsätzen der Bundeswehr verwendet wird. Das deutet die Dimensionen der psychischen Probleme an, die aus solchen Ereignissen resultieren können. Wolfgang, ein gestandener Kerl, den garantiert nichts so leicht aus der Bahn wirft, berichtet von Alpträumen, Schlafstörungen und Depressionen. Ähnlich erging es dem zweiten Protagonisten: Sören ist ein ganz anderer Typ und somit eine gute Ergänzung zu Wolfgang. Er war erst wenige Monate Lokführer, als sein Zug am Zweiten Advent an einem Bahnübergang eine junge Frau überrollte. Gegen den Rat seiner Kollegen trat er die Flucht nach vorn an und ging zur Trauerfeier für das Opfer; anschließend war der Weg für ihn frei, um sich mit dem Ereingis auseinanderzusetzen.
Mit der Auswahl der beiden Protagonisten hatte das Autorenpaar die erste Hürde genommen. Die zweite bestand in der Frage der Bebilderung. Auch dafür fanden sich probate Lösungen: Beide Männer werden mit einem Spaziergang zu den Unfallorten eingeführt; ein klares Signal dafür, dass sie bereit sind, sich dem traumatischen Erlebnis zu stellen. Bei Wolfgang ergaben sich schöne Aufnahmen durch den Klinikaufenthalt, bei Sören durch die Freundin: Drei Monate nach dem Unfall hat er sich verliebt, und vermutlich konnte ihm nichts Besseres passieren, um die düsteren Erinnerungen hinter sich zu lassen. Die Frau ist selbstredend das Lieblingsmotiv des Hobbyfotografen, und natürlich haben sich Aischmann und Schmidt die entsprechenden Bilder nicht entgehen lassen.
Es gehört zum Prinzip von "37 Grad", das Publikum mit einem guten Gefühl zu entlassen, weshalb beide Erzählebenen positiv enden: Sören und seine Freundin sind zusammen aufs Land gezogen, Wolfgang hat neuen Lebensmut gefasst und kann sich dem Alltag wieder mit Freude widmen. Vor allem, und das ist mindestens genauso wichtig, scheut er sich nicht mehr, auch im Kollegenkreis über seine Erfahrungen zu sprechen. Auf diese Weise weckt er in anderen, die ähnliche Erlebnisse lieber verdrängen, den Mut, sich professionelle Hilfe zu suchen; bislang sind das offenbar nur zehn Prozent der Betroffenen. Auch den Zuschauern bietet die von Götz Bielefeldt sehr angenehm gesprochene und von der katholischen Produktionsfirma Tellux hergestellte Reportage einen Erkenntnisgewinn: Wenn sie das nächste Mal die Durchsage "Personenschaden" hören, werden sie hoffentlich nicht mehr über die Bahn meckern oder gar den Lokführer beschimpfen.