Irgendwann will der LKA-Chef von seiner Mitarbeiterin wissen, warum sie das Böse magnetisch anzieht. Natürlich kann Nora Weiss diese Frage nicht beantworten; der Kriminaldirektor müsste sie den Autoren stellen. Entscheidend ist jedoch ein ganz anderer Aspekt: Es muss innerhalb der Handlung stimmig sein, dass ausgerechnet die Zielfahnderin vom LKA Kiel regelmäßig auf die schlimmsten Schwerkriminellen trifft; und diese Begegnung hat das Autorenduo Kathrin Richter und Jürgen Schlagenhof im fünften "Solo für Weiss" plausibel eingefädelt. Der Krimi beginnt ohne Anlauf als Thriller: Weiss und ihre Kollegen observieren in Lübeck einen Kokain-Deal in großem Stil. Als plötzlich die örtliche Kriminalpolizei auftaucht, gerät die Lage komplett außer Kontrolle. Auf bizarre Weise gelingt den Gangstern die Flucht. Allerdings gibt es auch ein Opfer: Der schwedische Drogenkäufer, Jesper Alm (Anastasios Soulis), wird von zwei blonden jungen Frauen begleitet. Eine der beiden ist Marie von Wenzel, eine Tochter aus bestem Hause und Nora gut bekannt, weil die beiden Familien miteinander befreundet sind. Alm erschießt das Mädchen kaltblütig; Marie stirbt in Noras Armen. Erwartungsgemäß will die Kommissarin den Killer zur Strecke bringen, und selbstredend lässt sie sich auch durch ein lästiges Detail wie ihre doppelte Befangenheit nicht davon abbringen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Handlungsmuster der Geschichte mag zunächst nicht weiter originell klingen, aber das von Regisseurin Maria von Heland bearbeitete Drehbuch spitzt die Jagd zum Zweikampf zu, denn Alm dreht den Spieß um: Er entführt Noras Vater (Rainer Bock) und ihre beste Freundin (Natalia Rudziewicz), deponiert eine Bombe mit Zeitzünder bei den beiden Geiseln und zwingt die Kommissarin, die dreißig Kilo Kokain aus der Asservatenkammer des LKA zu stehlen und nach Schweden zu bringen. Ebenso simpel wie effektiv sorgt fortan der regelmäßig eingeblendete Countdown dafür, dass die Spannung selbst dann nicht abreißt, wenn sich gerade mal nichts ereignet; aber das ist in diesem Film ohnehin nur selten der Fall. Auch deshalb ist "Schlaflos" deutlich fesselnder als der letzte und ebenfalls von Heland inszenierte bislang schwächste Film der Reihe, ("Für immer schweigen"), zumal die Geschichte dieser Episode den Anschein erweckte, als sei die Kritik am Gesundheitssystem der eigentliche Motor des Projekts gewesen. Deshalb war auch der Autorenwechsel vermutlich keine schlechte Idee; bis dahin hatte Mathias Klaschka, sonst stets ein vorzüglicher Autor ("Kommissarin Heller"), alle Drehbücher geschrieben.
Krimis im Allgemeinen und Thriller im Besonderen sind zwar nicht gerade das Spezialgebiet von Richter und Schlagenhof, zu deren bekanntesten (und besten) Arbeiten die Drehbücher zu Rainer Kaufmann tragikomischer vierteiliger Familien-Saga im ZDF gehört (von "Das Beste kommt erst", 2009, bis "Das beste aller Leben", 2015), aber das galt für Maria von Heland nicht minder – bis sie "Jung, blond, tot – Julia Durant ermittelt" (2018) gedreht hat. Ihre jüngste Arbeit ist ähnlich packend wie der Sat.1-Thriller. In beiden Fällen war Cristian Pirjol für die Bildgestaltung verantwortlich. In "Schlaflos" sorgt neben atmosphärischen Winterbildern nicht zuletzt sein Licht dafür, dass der optisch aufwändig anmutende Film genauso kühl wie seine Heldin wirkt. Einzig die Kirche von Pfarrer Weiss ist ein Hort der Wärme. Ihre Spannung verdankt die Episode allerdings in erster Linie der ausgezeichneten Thriller-Musik von Florian Tessloff, der zwischendurch gern auch mal einen Klangteppich webt, auf dem sich Unheil zusammenbraut.
Ebenso fesselnd wie Noras Wettlauf gegen die Zeit ist ihr innerer Konflikt, weil sie sich mindestens eine Mitschuld am Tod von Marie gibt: Ihr hätte klar sein müssen, dass sich die Situation schlagartig verändert, wenn die junge Frau sie erkennt. An deren Stelle rückt nun Silvi (Laetitia Lauré Adrian). Die beiden Teenager haben sich beim Drogenentzug angefreundet. Silvi scheint Alm hörig zu sein und würde alles für ihn tun. Als sie eines Abends bei der Kommissarin auftaucht, ist dies der Beginn eines riskanten Doppelspiels. Fortan ist Alm dank einer elektronischen Raffinesse über jeden von Noras Schritte informiert. Die Schurkenrolle ist ohnehin interessant, aber der Schwede Anastasios Soulis versieht sie zudem mit dem nötigen Charisma: Alm ist durchaus sympathisch, weshalb seine gelegentliche Brutalität umso plakativer ausfällt. Wie eine Katze, die mit ihrem Opfer spielt, amüsiert er sich köstlich über Noras vergebliche Versuche, das Versteck mit den Gefangenen zu finden. Ähnlich reizvoll als Figuren und nicht minder treffend besetzt sind Maries Eltern (Stephanie Eidt, Klaus Pohl), die um jeden Preis den Schein wahren wollen; bis der Vater die Maske fallen lässt. Als Nora in Schweden eintrifft, offenbart sich ihr der erschreckende Abgrund, der sich hinter der makellosen Fassade der Familie von Wenzel und ihrer Stiftung für in Not geratene Kinder verbirgt. Der pessimistische Schluss ist die logische Konsequenz der düsteren Geschichte.