Eine junge Frau sitzt am Steuer eines Autos und ist in ihr Tablet vertieft, als es plötzlich einen Aufprall gibt. Für das Essener Unternehmen Lindemann ereignet sich der tödliche Unfall zur Unzeit: Der Technologiekonzern hat hunderte Millionen Euro in die Entwicklung des autonomen Fahrens investiert; "Lindi", wie der Prototyp heißt, soll den Weltmarktführer im Bereich Motorenfertigung in die Zukunft leiten. Um seine Tochter Charlotte (Laura Berlin) zu entlasten, nimmt Vorstandschef Benedikt Lindemann (Justus von Dohnányi) die Schuld auf sich und sagt, er habe das Auto gefahren. Charlotte ist zwar Leiterin der Entwicklungsabteilung, aber nicht unumstritten und viel zu fragil, um sich der unvermeidlichen Entrüstung zu stellen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Was wie der Auftakt zu einer Auseinandersetzung über vermeintlich unfehlbare autonome Fahrzeuge und die damit verbundenen Risiken klingt, entwickelt sich jedoch noch während der ersten Folge in eine andere Richtung. Der Titel lässt einen Wirtschaftskrimi erwarten - der "Breaking Even Point" ist der Punkt, an dem sich Investitionen und Einnahmen die Waage halten -, aber schon bald spielt der "Lindi" erst mal keine Rolle mehr. Stattdessen schwebte den Machern offenbar eine Familien-Saga im Stil jener Mehrteiler vor, die Oliver Berben seit vielen Jahren fürs ZDF drehen lässt, von "Krupp" (2009) über "Das Adlon" (2013) bis zu "Der Wagner-Clan" (2014). Der Produzent arbeitet dabei regelmäßig mit den besten Autoren, Regisseuren und Schauspielern zusammen; in dieser Liga spielt Boris Kunz, Schöpfer der bissigen BR-Serie "Hindafing" (2017/19), allerdings noch nicht. Die Lindemanns entsprechen nahezu allen nur denkbaren Klischees schwerreicher Unternehmerfamilien: Die Mitglieder sind untereinander heillos zerstritten, weshalb bei den seltenen Gelegenheiten, wenn alle beisammen sind, vorzugsweise Vorwürfe und Bosheiten ausgetauscht werden. Playboy Maximilian (David Rott) fühlt sich übergangen, weil sein visionärer Bruder Benedikt nicht ihm, sondern seiner tablettensüchtigen Prinzessin die Leitung der Entwicklungsabteilung anvertraut hat. Benedikts Sohn Konstantin (Rafael Gareisen) ist das schwarze Schaf der Lindemanns, bezeichnet die Familientreffen als "Freakshow" und hat sich einer Gruppe von Umweltaktivisten angeschlossen. Benedikts weitgehend stumme Schwester Victoria (Sandra Borgmann) sieht wie eine Leihgabe der "Addams Family" aus; ihr gruseliges Erscheinungsbild hat allerdings einen tragischen Hintergrund. Matriarchin Leonore (Nicole Heesters), die um jeden Preis ihren Lieblingssohn Max zum König krönen will, wirkt anfangs wie eine etwas angestaubte Queen Mum, wandelt sich aber zunehmend zu einem Muttermonster.
Die skrupellosen und durchtriebenen Machtspielchen innerhalb dieser hinter der mondänen Fassade moralisch durch und durch verrotteten Familie sind durchaus fesselnd, aber ein zweiter Handlungsstrang ist dennoch spannender als das Sippengemälde: Nora Shaheen (Lorna Ishema) arbeitet seit einem halben Jahr in der Rechtsabteilung des Konzerns und soll dabei helfen, den Unfall zu vertuschen, weil negative Schlagzeilen den Traum von der autonomen Automobilität beenden könnten, bevor er begonnen hat. Bei ihren internen Recherchen stößt Nora auf das Schreiben eines Ingenieurs, der anscheinend auf mögliche Software-Fehler hingewiesen hat. Dieses Dokument darf nie an die Öffentlichkeit kommen, aber genau das passiert, nachdem Nora es heimlich fotografiert hat. Als sie Konstantin und seine bei einer Protestaktion verhaftete Mitstreiter aus dem Gefängnis holt, klaut Aktivistin Jenny (Sinje Irslinger) Noras Smartphone und schickt das Foto einem TV-Sender, der Benedikt damit während eines Interviews zu dem Unfall konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt können die schwarze Juristin und das weiße Punkermädchen noch nicht ahnen, dass sich bald darauf gegen einen gemeinsamen Gegner verbünden, denn ab Folge drei wird "Breaking Even" endlich richtig packend: Jennys Mutter ist vor 15 Jahren ermordet worden. Die Spur führte damals zur den Lindemanns. Jenny will endlich Gerechtigkeit. Nacheinander geraten praktisch alle Familienmitglieder in Verdacht, die Tat begangen oder in Auftrag gegeben zu haben, aber die Wahrheit, die das ungleiche Gespann schließlich aufdeckt, ist noch ungeheuerlicher, als sie befürchtet haben; gegen Ende folgt ein Knüller auf den anderen.
Mehr als ungewöhnlich ist auch die Besetzung der Protagonistin: Dass eine Schauspielerin mit dunkler Hautfarbe die Hauptfigur in einer deutschen Serie spielt, ist nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Lorna Ishema, geboren in Uganda, aufgewachsen in Hannover, ist bislang vor allem als schöne Polizistin in der Vox-Serie "Rampensau" (2019) aufgefallen; "Breaking Even" ist ihre erste Hauptrolle. Angenehmerweise thematisieren die Drehbücher (Chefautoren: Kunz und Rafael Parente) Lornas Hautfarbe nur indirekt: Als Lorna zu Beginn mitten in der Nacht in die Firma gerufen wird, trifft sie im Aufzug auf eine ebenfalls schwarze Putzfrau. Die beiden tauschen einen Blick, in den sich viel hineininterpretieren lässt. Auch die vielen guten und zumeist angenehm beiläufig eingestreuten Einfälle können jedoch nicht kaschieren, dass das Qualitätsgefälle zwischen Justus von Dohnányi und den jungen Darstellern stellenweise beträchtlich ist. ZDF-Neo zeigt die von Folge zu Folge immer faszinierendere Serie mittwochs in Doppelfolgen. In der Mediathek stehen bereits alle Teile zum Abruf bereit.