Im Oktober 1956 sehen die Freunde Theo und Kurt aus dem brandenburgischen Stalinstadt (seit 1961 Eisenhüttenstadt) beim Kinobesuch in West-Berlin eine Wochenschau über den ungarischen Volksaufstand. In den ostdeutschen Medien wird die Großdemonstration als eine aus dem Westen gesteuerte Konterrevolution bezeichnet. Als die Jungs und ihre Mitschüler aus der Abiturklasse bei Kurts Onkel Edgar Rias Berlin hören, das "Radio im amerikanischen Sektor" und die selbsterklärte "freie Stimme für eine freie Welt", erfahren sie die Wahrheit: Die protestierenden Ungarn sind keine Faschisten, sondern für Demokratie und Freiheit auf die Straße gegangen. Spontan beschließt die Klasse, am nächsten Tag eine Gedenkminute abzuhalten. Der Lehrer hat zwar keine Ahnung, warum seine Schüler schweigen, meldet den Vorfall aber selbstverständlich dem Schulleiter (Florian Lukas). Prompt spricht sich das Ereignis bis in höchste Kreise rum. Schließlich stattet der Volksbildungsminister persönlich der Schule einen Besuch ab und stellt ein Ultimatum: Wenn niemand den Namen des Rädelsführers nennt, wird die gesamte Klasse vom Abitur ausgeschlossen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Lars Kraumes Drehbuch zu seinem Film "Das schweigende Klassenzimmer" basiert auf dem 2006 erschienenen gleichnamigen Sachbuch von Dietrich Garstka, der das alles selbst erlebt hat. Kraume hat schon 2007 mit seinem Schülerdrama "Guten Morgen, Herr Grothe" (Grimme Preis, Deutscher Fernsehpreis) bewiesen, wie großartig er junge Schauspieler zu führen weiß. Das zeigt er hier erneut, denn die Hauptdarsteller des Films sind die Mitglieder der Schulklasse. Kurt Wächter (Tom Gramenz) ist zwar der eigentliche Initiator der Schweigeminute, aber die Hauptfigur des Films ist sein Freund Theo Lemke (Leonard Scheicher); aus seiner Sicht erzählt Kraume die Geschichte. Theo ist es auch, der die vermeintlich rettende Idee hat: Wenn das Schweigen zur Gedenkminute für den weltberühmten Fußballer Ferenc Puskás umgewidmet wird, der laut Rias unter den mehreren hundert Opfern war, und sich alle darauf einigen, dass der Einfall "durch die Reihen geflüstert" worden ist, können sie ihren Kopf noch mal aus der Schlinge ziehen. Theo hat in seiner Rechnung jedoch nicht berücksichtigt, wie perfide die Kreisschulrätin Kessler (Jördis Triebel) ist, und deshalb wird Erik (Jonas Dassler) zu einer weiteren wichtigen Figur. Er bringt die ganze Sache unabsichtlich ins Rollen, als er die Schweigeminute gegenüber dem Lehrer als Zeichen des Protests bezeichnet. Erik, Sohn eines im Konzentrationslager ermordeten Rotfrontkämpfers, entpuppt sich als Schwachstelle im Klassenverbund; Kessler macht sich ausgerechnet seine glühende Verehrung für den Vater zunutze, um einen Keil in den Klassenverbund zu treiben.
"Das schweigende Klassenzimmer" ist fürs Kino entstanden und hatte 2018 gut eine Viertelmillion Besucher. Ähnlich wie Kraumes nicht minder herausragende und mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Hommage an den unbeugsamen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der in den späten Fünfzigern maßgeblichen Anteil an der Ergreifung von Adolf Eichmann hatte ("Der Staat gegen Fritz Bauer", 2015), passt das historische Drama jedoch gut ins Fernsehen. Natürlich haben Ausstattung und Kostümbild gewisse Investitionen erfordert, aber dank der Konzentration auf die Figuren entspricht der Film im Grunde einer aufwändigen TV-Produktion. Neben den ausnahmslos ausgezeichneten jungen Darstellern, von denen noch Isaiah Michalski als Edgars Neffe Paul sowie Lena Klenke als Theos Freundin zu erwähnen sind, hat Kraume auch die Erwachsenen prominent und treffend besetzt. Schlüsselrollen spielen dabei Ronald Zehrfeld und Max Hopp, die Väter von Theo und Kurt, denn beide hüten ein Geheimnis vor ihren Söhnen. Hermann Lemke ist Stahlkocher und nimmt Theo mit zur Arbeit, damit der am eigenen Leib erfährt, was er aufs Spiel setzt. Beim Abendessen fallen dem Jungen die Erbsen von der Gabel, weil ihn die harte körperliche Arbeit völlig überanstrengt hat. Später stellt sich allerdings raus, dass das rebellische Denken dem jungen Mann gewissermaßen im Blut liegt. Kurts Vater wiederum hat einst große Schuld auf sich geladen. Max Hopp verkörpert den linientreuen Parteifunktionär Wächter als klassischen Patriarchen, der seine Familie mit harter Hand führt; umso größer ist schließlich seine unerwartete Geste, die das berührende Ende des Films vorwegnimmt.
Vortrefflich besetzt sind auch zwei weitere entscheidende Figuren: Burghart Klaußner hat für Kraume schon Fritz Bauer verkörpert und passt perfekt zur Rolle des Bildungsministers, der für seine Ideale zur Not auch handgreiflich werden würde. Die einzig uneingeschränkt sympathische erwachsene Figur ist Edgar, den die Klasse regelmäßig zum Rias-Hören besucht. Michael Gwisdek verkörpert diesen Mann, dessen schwierige Lebensumstände bloß angedeutet werden, als altersweisen väterlichen Freund, der den Teenagern die Augen für die Wahrheit öffnet: Durch ihre Aktion haben sie sich als Freidenker zu erkennen gegeben; damit sind sie zu Staatsfeinden geworden. Auch Edgar gehört zu den Opfern: Die Meldung über den Tod von Puskás war falsch, wurde jedoch ausschließlich von Westmedien verbreitet. Die Schüler konnten sie nur im "Feindsender" gehört haben, weshalb die Ordnungshüter schließlich auch bei ihm auftauchen.
Neben den guten darstellerischen Leistungen ist "Das schweigende Klassenzimmer" schon allein wegen der Reise in die Vergangenheit sehenswert. In den Fünfzigerjahren sind die Grundlagen für die Gegenwart entstanden; trotzdem werden die Geschichten dieses Jahrzehnts viel zu selten erzählt. Der Kern des Films ist zudem hochaktuell: Es geht um eine Zeit des politischen Erwachens junger Menschen, die den großen Mut aufbringen, sich gegen die gesellschaftliche Konformität zu stellen; ihre Solidaritätsaktion gegen Ende sorgt für eine ungemein bewegende Szene.