Den Haag (epd). Die bolivianische Übergangsregierung hat den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aufgefordert, Ermittlungen wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen der Opposition einzuleiten. Die Chefanklägerin des Gerichts, Fatou Bensouda, teilte am Mittwochabend in Den Haag mit, sie habe von der Übergangsregierung eine Beauftragung und Dokumente erhalten, in denen Mitglieder der Partei von Ex-Präsident Evo Morales "Movimiento al Socialismo" (MAS) vorgeworfen wird, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Corona-Pandemie verantwortlich zu sein. Chefanklägerin Bensouda teilte mit, ihr Büro werde die Informationen prüfen. Die Beauftragung durch eine Regierung führe nicht automatisch zu Ermittlungen.
Die Opposition soll den Dokumenten zufolge durch gezielte Straßensperren während der Corona-Pandemie den Zugang zu Gesundheitsversorgung behindert und damit im August den Tod mehrer Menschen verursacht haben. Der Übergangsregierung zufolge handelte es sich bei den Blockaden um unmenschliche Handlungen, die vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verursacht hätten. Bolivien hat bei einer Bevölkerung von etwa 11,6 Millionen bislang rund 123.000 Corona-Infektionen und 7.100 Todesfälle durch das Virus registriert.
Die bolivianische Regierung unter der selbsternannten Übergangspräsidentin Jeanine Áñez Chávez ging zuletzt verstärkt gegen Morales und seine Partei vor. Das Verfassungsgericht urteilte am Montag, der frühere Präsident dürfe bei den für Oktober geplanten Wahlen nicht für einen Senatorenposten antreten, weil er seinen dauerhaften Wohnsitz im Ausland habe. Morales war nach einer umstrittenen Wahl im Oktober 2019 unter Druck des Militärs zurückgetreten und ins Ausland gegangen. Seither geht die Justiz in verschiedenen Fällen gegen ihn vor, darunter wegen Terrorismus und Vergewaltigung.
Der Strafgerichtshof in Den Haag kann Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression verfolgen. Staaten können das Gericht selbst mit Ermittlungen beauftragen, wenn die nationalen Behörden nicht in der Lage sind, einen Prozess zu führen. Seit der Eröffnung des Gerichts 2002 hat die Anklagebehörde elf dieser Überweisungen von Regierungen bekommen. Vor der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wird zunächst geprüft, ob die mutmaßlichen Verbrechen in die Zuständigkeit des Gerichts fallen und schwer genug sind. In dieser Phase werden noch keine verdächtigen Personen ermittelt.