Noch Jahrzehnte später prangte das Konterfei des ungehobelten, ruppigen, dennoch sensiblen und deshalb so ungeheuer authentisch wirkenden Kommissar Horst Schimanski auf Büchern über die Krimireihe. "Duisburg-Ruhrort" führt diesen fürs deutsche Fernsehen damals völlig neuen Ermittlertypus mit einer Szenenfolge ein, die wichtige Merkmale der Figur vorwegnimmt. Zunächst sieht man nur eine schmale Taille und ein breites Kreuz, der Blick des Mannes aus dem Fenster seiner vermüllten Junggesellenwohnung zeigt Industrie, und aus dem Radiorecorder ertönt "Leader of the Pack" von den Shangri-Las aus dem Jahr 1964.
Oldies dieser Art, viele aus den Fünfzigern, ziehen sich durch den gesamten Film. Der vor vier Jahren verstorbene Götz George war Anfang vierzig, aber Schimanski wirkte nicht zuletzt dank seines nachlässigen Kleidungsstils deutlich jünger, erst recht im Vergleich zum stets wie aus dem Ei gepellt auftretenden Kollegen Thanner (Eberhard Feik). Die Musikauswahl verdeutlicht: In seinem Herzen ist dieser Mann ein Halbstarker geblieben, der es irgendwie verpasst hat, richtig erwachsen zu werden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Weil sich Schimanski mangels sauberer Pfanne kein Spiegelei braten kann, schlägt er sich zwei Eier ins Glas, dann verlässt er die Wohnung. Draußen tobt das pralle Leben: Eine Kapelle der Heilsarmee spielt auf, irgendjemand schmeißt sein Inventar aus dem Fenster. Schimanski brüllt: "Hotte, du Idiot, hör’ auf mit dem Scheiß!". Aber Hotte lässt sich nicht beirren und wirft auch noch seinen Fernseher hinterher: "Dieses Scheiß Fernsehen, taugt sowieso nix". Schon allein dieser Einstieg war ein echter Knüller, und eine ganze Generation junger Zuschauer, die vom "Pantoffelkino" ihrer Eltern nichts mehr erwarteten, hatte plötzlich einen Fernsehhelden, der ihre Sprache sprach und ihr Rebellentum verkörperte. Regisseur Hajo Gies war überzeugt, der WDR werde das Experiment "Tatort" aus Duisburg spätestens nach dem dritten Film beenden. Auch bei der produzierenden Bavaria herrschte die Meinung vor, so viel Wirklichkeit sei nicht mehrheitsfähig; die opportunistische Boulevardpresse reagierte äußerst distanziert.
Wie immer bei großen Erfolgen hat Schimanski angeblich viele Väter. Das Drehbuch zu "Duisburg-Ruhrort" stammte von Horst Vocks und Thomas Wittenburg. Zu nennen ist neben Gies auf jeden Fall auch Produzent Bernd Schwamm. Der wichtigste Mann aber war der Hauptdarsteller, für den der "Tatort" den Auftakt zu einer zweiten Karriere bedeutete: Als sich der Neue Deutsche Film in den Siebzigerjahren von "Papas Kino" verabschiedet hatte, gab es für den zuvor vielbeschäftigten jugendlichen Draufgänger Götz George keine Rollen mehr. Quasi als Reminiszenz an seine Karl-May-Filme enthalten die Duisburger "Tatort"-Episoden immer wieder Prügelszenen, in denen Schimanski über Tische und Stühle fliegt; aus heutiger Sicht wirken sie meist zu lang und oft nicht überzeugend inszeniert, aber damals gehörten sie einfach dazu.
Der Mythos basiert jedoch auf einer Entwurzelung, die den romantischen Helden zur perfekten Identifikationsfigur für junge Zuschauer machte: Einerseits fühlt sich Schimanski unter den Arbeitern wohl, er muss sich nicht anbiedern, weil er einer von ihnen ist. Andererseits hat er eine Polizeimarke, er wird zwar geduldet, aber damit ist Schluss, sobald er unbequeme Fragen stellt; dann ist er bloß noch der "dreckige Polyp". Recht und Ordnung sowie die Stimme der Vernunft werden dagegen vom korrekten Thanner verkörpert, der den impulsiven Kollegen zwar mag, sich aber regelmäßig von seinen Ermittlungsmethoden distanziert; auch in dieser Welt wird Schimanski nur toleriert, solange er Erfolg hat. Für diese Haltung steht der Vorgesetzte, Kriminalrat Königsberg (Ulrich Matschoss), von Schimanski gern despektierlich "der Klops" genannt. Ihre Beziehung lässt sich am ehesten als Vater/Sohn-Verhältnis beschreiben, was mit einschließt, dass Schimanski seinem Chef auch mal die Meinung sagt; somit wurde er auch noch zum Helden aller Arbeiter und Angestellten.
All’ das erzählt "Duisburg-Ruhrort" jedoch nebenbei, im Zentrum des Films steht die Aufklärung eines Mordfalls; in den letzten Jahren haben sich einige "Tatort"-Autoren wesentlich schwerer damit getan, neue Figuren einzuführen und gleichzeitig eine ordentliche Krimigeschichte zu erzählen. Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Leichenfund am Hafen. Bei dieser Gelegenheit bekommt auch Thanner seinen passenden ersten Auftritt: Er unterhält sich mit einem Kapitän fließend auf Französisch; das bringt die Unterschiede zwischen den beiden Schnauzbartträgern auf den Punkt. Die Tat scheint alsbald geklärt, der Tote war ein Schürzenjäger und ist erst verprügelt, dann erstochen worden und schließlich ertrunken; Mord aus Eifersucht. Schimanski hat jedoch ein ungutes Gefühl bei der Sache, er glaubt, dass mehr dahinter steckt, und tatsächlich wird aus dem Mord im Milieu eine Geschichte über Waffenschmuggel; am Ende stellt sich allerdings heraus, dass die beiden Verbrechen gar nichts miteinander zu tun haben.
Den Einbruch der Wirklichkeit ins brave öffentlich-rechtliche Fernsehen kann man aus heutiger Sicht am ehesten nachvollziehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die typische Krimifigur jener Jahre der stets in vornehmen Stadtteilen ermittelnde Derrick war; da waren die konsequent aus Sicht der Ermittler erzählten Filme aus Duisburg, deren Außenaufnahmen im Hintergrund stets riesige Industrieanlagen zeigten, von ganz anderem Kaliber. Im Vergleich zum steifen Kollegen aus München fegte der fröhlich dem Alkohol frönende und in jeder Kneipe die Glückspielautomaten fütternde Schimanski mit seinen wechselnden Liebschaften wie ein Kulturschock über die Bildschirme der frühen Achtziger. Ein weiterer Unterschied zu den meisten anderen Krimis jener Jahre war der Humor.
In "Duisburg-Ruhrort" gibt es diverse kleine Slapstickstolperfallen für die beiden Ermittler und lakonisch humorvolle Anschlüsse, wenn auf Schimanskis Versicherung, "Gesoffen wird nicht, Ehrensache!" ein Schnitt auf eine im Wasser sprudelnde Kopfschmerztablette folgt. Amüsant und angenehm beiläufig ist auch eine Verbeugung vor Hansjörg Felmy, Georges Vorgänger als WDR-"Tatort"-Kommissar, der auf einer Plakatwand Werbung für eine Polaroidkamera macht; Gies hat das ungleich eleganter inszeniert als 35 Jahre später ein Kollege eine vergleichbare Hommage, als die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk dem Titelmusikkomponisten Klaus Doldinger als Straßenmusiker begegnen.