Die konsternierten Eltern reagieren mit hilfloser Wut (der Vater) oder Selbstvorwürfen (die Mutter), doch beides ändert nichts an Mikes selbstgewählter Isolation. Kontakt hält er allein zu seiner Schwester Miriam, aber auch bloß in Form geschriebener Botschaften mit Stichwörtern zu regnerischen Wetterphänomenen auf der ganzen Welt.
Die Idee, ein schwarzes Loch zum Zentrum eines Films zu machen, ist mutig und durchaus reizvoll: Alles dreht sich um Mike (Béla Gabor Lenz), aber der ist außer in einigen kurzen grobkörnigen Momenten nie zu sehen; die Kamera bleibt gemeinsam mit den restlichen Mitgliedern der Familie vor der vom Hund mittlerweile völlig verkratzen Tür. Stattdessen erzählt das von Autorin Karin Kaçi betont episodisch konzipierte Drehbuch, welche Konsequenzen diese ungewöhnliche Situation für Miriam (Emma Bading) und ihre Eltern Susanne und Thomas (Bibiana Beglau, Bjarne Mädel) hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Alle drei erleben Ereignisse, die sich unter gewöhnlichen Umstände nicht oder zumindest anders zugetragen hätten. Das gilt vor allem für Susanne. Während sich Thomas fragt, was sie "sich da rangezüchtet haben" – einen Amokläufer womöglich? –, wird sie von ihrem Gewissen geplagt, weil sie Mike wegen ihrer Arbeit vernachlässigt hat. Sie kürt seinen besten Freund zum Ersatzsohn, was der junge Mann (Louis Hofmann) prompt falsch versteht; seine sexuellen Avancen werden brüsk zurückgewiesen. Auch Thomas lässt sich zu einer Tat hinreißen, die er später selbst nicht versteht; immerhin sind seine Motive höchst humanistischer Natur, weil er einem querschnittsgelähmten Patienten helfen will.
Hintergrund der Geschichte ist das sogenannte Hikikomori-Phänomen. In Japan ziehen sich offenbar seit einiger Zeit immer mehr junge Männer buchstäblich in die eigenen vier Wände zurück. Sie scheitern daran, die Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Eltern mit den eigenen Bedürfnissen in Einklang zu bringen oder fühlen sich generell überfordert. Die eigentliche Identifikationsfigur des Films ist jedoch Miriam, wie schon allein die schönen Zeitlupenstudien von Emma Bading verdeutlichen (Kamera: Andreas Köhler). Mikes jüngere Schwester befindet sich ohnehin in einer verwirrenden Lebensphase und könnte einen Vertrauten gut gebrauchen. Sie gesteht ihrer besten Freundin (Janina Fautz), dass Mike keineswegs, wie alle glauben, zum Austausch in Amerika ist; Susanne hat sich das ausgedacht, damit er nicht als verrückt gilt. Allerdings wetteifern die beiden jungen Frauen um die Gunst eines begehrten Mitglieds ihrer Clique, was sie prompt zu Konkurrentinnen werden lässt. Bading, zur Zeit der Dreharbeiten nicht mal zwanzig, zeigt als in sich gekehrte Schwester erneut, was für eine ausgezeichnete Schauspielerin sie bereits in jungen Jahren bereits ist; ähnlich wie in "Play" (2019) als Mädchen, das sich immer mehr in der Welt eines Fantasy-Spiels verliert, in der Tragikomödie "Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon" (2018) oder als Tochter in den "Usedom-Krimis".
"1000 Arten Regen zu beschreiben" ist das Langfilmdebüt von Isabel Prahl. Der Film lief auf einigen Festivals und kam 2018 in die Kinos, hatte aber nur wenige tausend Zuschauer. Die Regisseurin hat anschließend fürs ZDF eine amüsante Episode der Krimireihe "Friesland" ("Hand und Fuß", 2019) und für den NDR den fesselnde Tatsachenfilm "Was wir wussten – Risiko Pille" über die Gefahren der Anti-Baby-Pille gedreht. Ihr letztes Werk war ein intensiver "Tatort" aus Köln ("Gefangen"), in dem Kommissar Ballauf gegen seine Dämonen kämpfen musste. Im Vergleich zu diesen Fernsehfilmen ist ihr Erstlingswerk deutlich ungefälliger, zumal dem Film auf halber Strecke auch mal die Geschichte ausgeht, weshalb er sich ein bisschen zieht.
Die Musik von Volker Bertelmann (alias Hauschka) ist allerdings auffallend ungewöhnlich. Die Deutsche Film- und Medienbewertung hat dem Drama das Prädikat "Besonders wertvoll" verliehen. In der Begründung heißt es unter anderem: "Subtile Kameraarbeit und ausgeklügelter Musikeinsatz produzieren in ‚1000 Arten Regen zu beschreiben’ einen elegischen Sog, wie man ihn im gegenwärtigen Kino selten findet. Die Schauspieler bekommen in diesem Kontext die Möglichkeit ungewohnter Intensität."