Soziologen und Demoskopen bezeichnen die Schulabgänger, die in diesem Jahr eine Ausbildung oder ein Studium beginnen wollen, gern als "Generation Corona". Sie wurden von der Pandemie genauso kalt und unvorbereitet erwischt wie der Rest der Gesellschaft, aber sie haben das Gefühl, dass das Virus sie um ihre Jugend gebracht hat: weil sie von jetzt auf gleich erwachsen werden mussten.
Nadja Kölling hat für ihre "37 Grad"-Reportage zwei junge Frauen und einen jungen Mann aus Hamburg durch die Zeit rund ums Abitur begleitet. Die Pandemie ist wenige Wochen vor den ersten Klausuren ausgebrochen. Die Ausgangsbeschränkungen hatten zwar zur Folge, dass sich die Schülerinnen und Schüler ablenkungsfrei auf den Prüfungsstoff konzentrieren konnten, aber Lerngruppen waren nur online möglich. Natürlich sind Jugendliche daran gewöhnt, sich permanent digital auszutauschen, doch gerade die Freundinnen Zoe (18) und Lucie (19) haben den persönlichen Kontakt sehr vermisst. Die allgemeine Verunsicherung wirkt sich zudem bei jungen Menschen, die sich in ihrem Leben in der Regel noch keinen existenziellen Herausforderungen stellen mussten, womöglich noch stärker aus als bei Erwachsenen. Ausgerechnet in dieser wichtigen Phase der Orientierung haben sie das Gefühl, ihre Generation werde mit unlösbaren Problemen konfrontiert: erst die Flüchtlingsthematik, dann der Klimawandel, nun Corona. Sorgen machen sie sich allerdings vor allem um ihre Großeltern.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Weil nicht nur die drei Jugendlichen zu Wort kommen, kann die Autorin ein größeres Bild zeigen. Zoes Mitschüler Owen zum Beispiel hat neben seinem Zwillingsbruder noch zwei kleinere Geschwister; die Mutter musste Home-Office und Home-Schooling unter einen Hut bekommen. Ein Lehrer beschreibt, wie die Abiturprüfungen unter Corona-Bedingungen absolviert werden: Um die Abstandsregeln einzuhalten, sind die Arbeiten in der Aula und in der Turnhalle geschrieben worden.
Letztlich sind es jedoch die jungen Frauen, die diese "37 Grad"-Ausgabe sehenswert machen. Kölling hat offenbar einen guten Draht zu den beiden gefunden. Das zeigt sich nicht nur an der Offenheit, mit der Zoe und Lucie über ihre Gefühle sprechen, sondern auch in ihrer unverkrampften Art vor der Kamera. Sie haben das Gefühl, die Pandemie habe sie aus der Kindheit gerissen und ins Erwachsenenleben katapultiert. Sie hätte nie gedacht, gibt Zoe zu, dass sie das mal sagen würde, aber sie vermisse die Schule extrem. Nach dem Abitur wollte sie ihre Freiheit genießen, für längere Zeit nach Asien reisen und anschließend in Berlin Jura studieren. Entsprechend groß ist der Druck, unter den sie sich setzt: Sie benötigt einen Abi-Schnitt von 1,4. Lucie will Biologie oder Kunst studieren und ist zumindest im Hinblick auf die Prüfungen gelassener; sie braucht keine 1 vor dem Komma, hat aber Angst, dass es nie wieder so wird wie vor Corona.
Die Abi-Wochen sind für Jugendliche und ihre Eltern generell eine spannende Zeit, zumal gerade der aktuellen jungen Generation nachgesagt wird, sie könne sich vor lauter Ausbildungsmöglichkeiten nicht entscheiden, welchen Weg sie einschlagen soll. Weil die jungen Männer und Frauen meistens ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihren Erzeugern haben, kommt es oft zum "Hotel Mama"-Phänomen. Dieses Klischee erfüllen Lucie, Zoe und Owen jedoch ganz und gar nicht, alle drei haben ein klares Ziel, auf das sie hinarbeiten.
Allerdings hat Corona nicht nur die Träume von der großen Freiheit platzen lassen. Zoe erlebt einen weiteren Dämpfer: Ihre Abi-Note ist nicht so gut wie erhofft. Nun will sie in Berlin ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei machen und sucht gemeinsam mit Lucie eine Wohngemeinschaft, die sie aufnimmt. Allerdings müssen die beiden alsbald feststellen, dass die Hauptstadt nicht auf sie gewartet hat: Offenbar will niemand Mitbewohnerinnen ohne Lebenserfahrung. Dabei hat Zoe, wie sie sagt, die anstrengendsten Wochen ihres Lebens hinter sich. Die beiden Freundinnen hatten außerdem viel Zeit zum Nachdenken. Der Titel, den Nadja Kölling der Reportage gegeben hat, ist daher recht clever, denn er trifft in doppelter Hinsicht zu: Ihr Film heißt "Die Reifeprüfung". Es wäre schön, wenn sie in ein paar Jahren erzählen würde, wie es mit Zoe und Lucy weitergegangen ist.