Gottesdienst nicht in der Kirche, sondern in freier Natur? Die Idee, die Gerhard Röckle, der damalige Leiter des Amtes für missionarische Dienste und spätere Prälat von Stuttgart, Anfang der 1970er-Jahre aus der Pfalz nach Württemberg brachte, sorgte zunächst durchaus für Skepsis. Doch der erste Gottesdienst im Grünen, der am 14. Mai 1974 auf dem Hohenneuffen stattfand, wirkte wie eine Initialzündung. Noch im selben Jahr gab es an 35 weiteren Orten solche Veranstaltungen.
Die liturgisch recht frei gestalteten Kurzgottesdienste an landschaftlich reizvollen Orten erfreuten sich immer größerer Beliebtheit und sind heute aus dem Gottesdienstangebot nicht mehr wegzudenken. Heute sind es jährlich rund 1.000 Freiluftangebote, davon etwa 800 Gottesdienste, schätzt Landesreferent Diakon Markus Munzinger, der einen Teildienstauftrag im Arbeitsbereich "Kirche im Grünen" hat.
In Württemberg gibt es derzeit pro Sonntag etwa 20 evangelische Gottesdienste unter freiem Himmel. Doch auch wenn im Sommer der Höhepunkt ist, sind die Veranstaltungen, die meistens von einer Kirchengemeinde organisiert werden, nicht auf diese Jahreszeit begrenzt: "Die Saison beginnt an Ostern und dauert zunächst bis Oktober. Im Dezember bis 6. Januar finden auch noch gottesdienstliche Feiern, wie zum Beispiel eine Waldweihnacht statt", erklärt Munzinger.
Gibt es Änderungen wegen Corona? "Etwa ein Drittel der uns gemeldeten Gottesdienste wurde abgesagt", sagt Munzinger. Stark zugenommen hätten dagegen reguläre Gemeindegottesdienste, die nun im Freien, zumeist innerorts in der Nähe der Kirche stattfinden - im Pfarrgarten, auf einer Wiese beim Gemeindehaus oder in einem Park. Denn die Ansteckungsgefahr ist im Freien weitaus geringer als in Räumen.
Spiritualität in der Natur
Laut einer Erhebung der Theologin Kathrin Sauer zum Thema "Unterwegs mit Gott" nehmen etwa 15 Prozent der Besucher häufiger an einem Gottesdienst im Grünen teil, als dass sie eine Kirche besuchen. "Einige verbinden dieses Angebot mit einem anschließenden Sonntagsausflug bei jedem Wetter, manche mögen auch die Spiritualität in der Natur lieber als in Kirchengebäuden", sagt Munzinger über die Gottesdienste, zu denen auch zufällig Vorübergehende dazustoßen und ein Begleithund kein Hindernis ist.
Es ist kurz vor elf Uhr, als Posaunenklänge auch ortsunkundigen Besuchern den Weg zum Grundstück von Familie Sailer in Hinterbüchelberg weisen. Der Murrhardter Teilort mit kaum mehr als sechzig Einwohnern inmitten des Schwäbisch-Fränkischen Waldes ist von weiten Ebenen, Feldern und viel Landwirtschaft geprägt. Da Regen angesagt war, sind Biergarnituren und Stühle in die große Feldscheuer gestellt. Duftend frische Heuballen und landwirtschaftliche Gerätschaften flankieren die Sitzgelegenheiten. Liebevoll gebundene Sommersträuße auf den Tischen und der Altar mit Kreuz, Ährenstrauß und Sonnenblumen machen den Raum feierlich.
Klar vernehmbares "Muh"
Pfarrer Achim Bellmann freut sich, Besucher aus allen Teilorten Murrhardts und darüber hinaus begrüßen zu können - vom Kleinkind bis zum Greis. Viele kommen aus persönlicher Verbundenheit mit Beate und Traugott Sailer, die sich kommunal und kirchlich einbringen. Nicht zuletzt öffnen die beiden Mitglieder der pietistischen Hahn'schen Gemeinschaft jeden fünften Sonntag ihr Wohnzimmer für Gottesdienste ihrer Murrhardter Kirchengemeinde.
Schöpfung erleben und den Schöpfer loben ist das verbindende Element des Gottesdienstes, der kaum eine Dreiviertelstunde dauert. Die Predigt, von mehreren Autoren in Reimform gebracht, setzt Impulse zum Nachdenken über den Auftrag zum Bebauen und Bewahren, gerade angesichts der Corona-Zeit. Durch ein klar vernehmbares "Muh!" nach dem Lied "Himmel, Erde, Luft und Meer" wird die Anbetung des Schöpfers von der Weide aus unterstrichen.
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Das Wetter hält. Das Feuer am Grill brennt einladend, junge Leute haben ein Wurfspiel vorbereitet. Zeit für Begegnungen und Gespräche in der weiten, idyllischen Naturlandschaft. "Wir freuen uns, dass das wieder stattfindet", sagen auch Menschen aus dem Dorf, die üblicherweise nicht in die Kirche gehen. Und die Gastgeberfamilie wünscht sich, dass - getreu dem Motto der Kirche im Grünen - diese nicht nur Natur erleben, sondern auch Gott begegnen.