Ben (Lau) kümmert sich schon sein Leben lang liebevoll um den geistig behinderten Barnabas (Kross), genannt Simpel: ein 22 Jahre altes großes Kind, das regelmäßig Zwiegespräche mit seinem Kuscheltier Monsieur Hasehase führt, aber der reinste Sonnenschein ist, so lange bestimmte Rituale eingehalten werden. Als die Mutter stirbt, soll Simpel, der rund um die Uhr betreut werden muss, in ein Heim, doch der Abschied zerreißt den Brüdern das Herz; also kapert Ben kurzerhand den Polizeitransporter. Die beiden machen sich, die Polizei im Nacken, auf den Weg nach Hamburg, um ihren Vater zu suchen. Der Mann ist auf "Geschäftsverreise", wie Simpel sagt: Er hat die Familie verlassen, als die Jungs noch klein waren, kann aber als einziger die Heimeinweisung rückgängig machen; und nun beginnt ein Abenteuer, in dessen Verlauf Ben und Simpel viele neue Freunde finden, aber auch eine bittere Enttäuschung erleben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Markus Goller hat sich mit Kinokomödien wie "Friendship!", "Eine ganz heiße Nummer" oder "Frau Ella" in der Riege jener Regisseure etabliert, für die selbst große Schauspieler auch mal nur durchs Bild laufen; Anneke Kim Sarnau zum Beispiel wirkt in der Rolle der Mutter quasi bloß als Leiche mit. Sichtlich großen Spaß hat auch Annette Frier als Prostituierte mit Herz: Ben engagiert die Frau vorübergehend als Babysitter. Sie nimmt Simpel kurzerhand mit in ihr Etablissement, wo die Kolleginnen viel Spaß mit ihm haben; einzig der Chef ist alles andere als amüsiert. Das Drehbuch von Dirk Ahner (er hat auch "Frau Ella" geschrieben) basiert auf dem gleichnamigen Roman der Französin Marie-Aude Murail, aber im Grunde haben Buch und Film kaum mehr als die Konstellation des Brüderpaars gemeinsam. Im Roman ist Simpel der Ältere und die eindeutige Hauptfigur. Die beiden ziehen in eine Pariser WG, wo er schließlich zwei Liebende zusammenbringt.
Die Mitbewohner wirken in Ahners Geschichte zwar ebenfalls mit, aber unter ganz anderen Umständen: Auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit lernen Ben und Simpel die schöne Medizinstudentin Aria (Emilia Schüle) und den Sanitäter Enzo (Axel Stein) kennen. Sie nehmen die Brüder mit nach Hamburg und erweisen sich als Freunde in der Not, denn natürlich kommt es zu verschiedenen Zwischenfällen: Als Ben ihn allein in Arias Wohnung zurücklässt, fackelt Simpel versehentlich die Küche ab. Später kommt es auf einem Bahnsteig zu bösen Vorwürfen: Ben erkennt, dass er keinen Plan B hat, und lässt seine Wut am Bruder aus; der steigt in einen Zug und verschwindet. Obwohl Ahner den Film episodisch konzipiert hat, entsteht ein sehr harmonischer Handlungsfluss, zumal die Brüder nicht auf der Flucht sind, sondern ein konkretes Ziel haben: Der Vater (Devid Striesow) freut sich ehrlich, Ben wiederzusehen; aber mit Barnabas will er nichts zu tun haben.
Bei Gollers früheren Komödien und seinem letzten Werk, "25 km/h", lag die Zahl der Kinobesucher zum Teil deutlich über einer Million; gemessen daran war der Erfolg von "Simpel" (2017) überschaubar. Der Film ist eine Kinokoproduktion des ZDF, wirkt optisch jedoch ein bisschen sparsam. Dafür ist es eine umso größere Freude, den Schauspielern zuzuschauen. Gerade die Szenen mit Frederick Lau und David Kross sind von einer liebevollen Innigkeit, weshalb der Bahnsteigstreit umso schmerzlicher ist. Darstellungen von geistiger Behinderung sind immer eine Gratwanderung, aber Kross spielt das sehr berührend. Sympathischerweise machen Ahner und Goller keine große Sache daraus, dass Ben seinen Bruder genauso dringend braucht wie der ihn: Simpel war bislang seine Ausrede dafür, sich nicht dem Leben stellen zu müssen.
In tollkühner Großzügigkeit verzichtet der Film zudem auf eine Romanze, obwohl sich vermutlich zumindest jeder männliche Zuschauer dank Emilia Schüle umgehend in Aria verlieben wird; erst ganz am Schluss gibt es eine zarte Andeutung, dass sie für Ben mehr sein könnte als bloß eine gute Freundin. "Simpel" ist dank der zwar auch mal melancholischen, ansonsten aber gute Laune verbreitenden Musik (Andrej Melita) ohnehin von einer ansteckenden Lebensfreude, und das nicht nur zu Beginn, wenn die Brüder ausgelassen durchs Watt tanzen. Einige Szenen sind so schön, dass es fast weh tut, etwa als Simpel von Enzo lernt, dass man zum Pinkeln kein Klo braucht, oder als Enzo und Aria gemeinsam den Stoffhasen operieren. Die OP ist der befreiende Schlusspunkt eines virtuos seine Vorzeichen wechselnden Films, der überwiegend fröhlich, aber spätestens gegen Ende auch spannend und dramatisch ist.