Gut gelaunt schiebt Karola Wehmeier ihr leuchtend rotes Fahrrad durch den weißen Sand und lehnt es an den Strandkorb mit der Nummer 77. Rasch noch den Sand vom Sitz gefegt und die Kirchenfahne an dem daneben stehenden Mast aufgezogen. Dann setzt sie sich in den Strandkorb - Füße ausgestreckt mit Blick über die Nordsee auf die Insel Wangerooge. Für die nächsten Stunden ist dies der Arbeitsplatz der Pastorin: "Ich bin schon zu beneiden", sagt sie mit einem Lachen und schlägt die Beine übereinander.
Karola Wehmeier ist Urlauberseelsorgerin am Strand von Harlesiel und in der evangelischen Kirchengemeinde in Carolinensiel - zumindest vorübergehend. Ihre eigentliche Gemeinde ist im Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim. Doch seit neun Jahren folgt sie jeden Sommer einem Aufruf der Evangelischen Kirche in Deutschland für den Dienst in der Kurseelsorge. So wie die 53-Jährige unterstützen Hunderte Theologen zwischen der Nordseeküste und dem Allgäu in den Ferien die Ortspastorinnen und -pastoren an beliebten Urlaubszielen.
Üblicherweise nehmen sie dann die Hälfte der Zeit ihren privaten Erholungsurlaub, für die andere Hälfte werden sie von ihren normalen Diensten freigestellt. Häufig gibt es in den Einsatzorten Ferienwohnungen, die für die Kurseelsorger reserviert sind.
"Viele Menschen leben das ganze Jahr auf den Urlaub hin, der dann auch mit Erwartungen überfrachtet wird", sagt Wehmeier. Doch wenn sie dann zur Ruhe kämen, ploppten die Probleme auf, die im Alltag verdrängt werden. "Dann sprechen mich die Leute hier im Strandkorb oder nach einer Andacht in der Kirche an und fragen, ob ich etwas Zeit für sie habe."
Meist gehe es um Sorgen wegen der Kinder oder Probleme in der Partnerschaft. Um den Corona-Abstand einzuhalten, steht dem Kirchen-Strandkorb in diesem Jahr noch ein weiterer gegenüber. Ein wenig bedauert die Pastorin, dass die Gäste nicht neben ihr Platz nehmen können. "Üblicherweise guckt man sich nicht die ganze Zeit an, sondern schaut meistens auf das Meer und die Inseln", sagt sie. Dann lasse sich vieles leichter von der Seele reden, fast wie in einem Beichtstuhl.
"Ich bin keine Therapeutin"
Oft genüge es zuzuhören und vielleicht einen Impuls zum weiteren Nachdenken zu geben, sagt Wehmeier. "Wenn es um größere Probleme geht, verabreden wir uns in der Kirche oder in meiner Ferienwohnung." Dabei kenne sie klar ihre Grenzen. "Ich bin keine Therapeutin. Bei schwerwiegenden Problemen empfehle ich dringend den Weg zum Psychologen."
Auch die Feriengäste verhielten sich in diesem Jahr anders, hat Wehmeier beobachtet. "Der Urlaub hat sich durch Corona verändert." Bei Kirchenführungen sei es stiller als sonst - "da sabbelt sonst eigentlich immer jemand rum". Die Restaurants seien deutlich weniger frequentiert, die Menschen stünden einerseits geduldig und mit gebührendem Abstand an. Zugleich seien sie leichter gereizt: "Ein Paar aus Bayern hat sich bei mir über die laxe Einhaltung der Abstandsregeln beschwert und eine Familie aus Mainz über die allgegenwärtige Maskenpflicht."
Viele Gäste und Einheimische kennen Karola Wehmeier seit Jahren. "Wenn ich wieder im Norden bin, miete ich mir als erstes ein Fahrrad." Daran befestigt sie dann ein Schild mit der Aufschrift "PFARR-RAD" und ihrer Handynummer. Dazu der Hinweis: "Zeit für Dich – Reden über Gott und die Welt oder das, was Dir am Herzen liegt." Einen weiteren laminierten Zettel mit ihrer Nummer legt sie in den Kirchen-Strandkorb. "Viele Menschen nutzen das Angebot."
Demnächst wird sie von einem Kollegen abgelöst, der dann die Seelsorge im Strandkorb 77 für die nächsten zwei bis drei Wochen übernimmt. Ob sie im nächsten Jahr wiederkommt? "Bestimmt", sagt sie und verrät, dass sie eine gebürtige Ostfriesin aus Völlenerkönigsfehn ist: "Das Heimweh zieht mich immer wieder zurück ans Meer."