In Peter Scholls Dokumentarfilm ist die Tragödie jedoch nur eine Fußnote. Er konzentriert sich auf die Neunzigerjahre, als der Umzug nach einem sehr überschaubaren Auftakt zu einem gigantischen Spektakel wurde, das im Sommer 1999 unglaubliche 1,5 Millionen Menschen anlockte.
Warum das Ereignis eine derartige Eigendynamik entwickelt hat, kann auch Scholl nicht wirklich beantworten. Selbst Menschen, die mit den stampfenden Techno-Rhythmen nicht viel anfangen konnten, fanden das friedliche Treiben offenbar durchaus sympathisch; und das gilt nicht nur für ältere Herren, deren Wohlgefallen angesichts der vielen spärlich bekleideten jungen Frauen nicht weiter verwundert. Matthias Roeingh (alias Dr. Motte) und Danielle de Picciotto sind anscheinend heute noch erstaunt, welche Dimensionen die einst von ihnen initiierte Veranstaltung schließlich erreicht hat. Einer der Zeitzeugen sagt: Als sich die Teilnehmer Anfang Juli 1989 zur Mittagszeit am Vorplatz vom Bahnhof Zoo einfanden, hätte man sie auch für eine Gruppe halten können, die auf den Bus wartet. Und wer weiß, was draus geworden wäre, wenn sich nicht drei Monate später Historisches ereignet hätte; die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat sich vermutlich nicht nur für Wolfram Neugebauer (alias WolleXDP) aus Leipzig in den Berliner Techno-Kellern vollzogen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Es sind vor allem die Erinnerungen von Organisatoren und Teilnehmern, die den von Benno Fürmann markant und prägnant kommentierten Film sehenswert machen. Die Bilder vom Techno-Karneval mit seinen zuckenden Leibern im Sonnenschein, erst auf dem Kurfürstendamm, dann auf der Straße des 17. Juni, ähneln sich, selbst wenn Scholl einige amüsante SFB-Archivschätze aus den Neunzigerjahren ausgegraben hat. Allzu beiläufig kommt allerdings die Kritik an der Kommerzialisierung der Veranstaltung zur Sprache. Der Love Parade ging es nicht anders als anderen Bewegungen, die im Untergrund beginnen und Mainstream werden: Irgendwann muss das Wachstum fremdfinanziert werden, was regelmäßig gleichbedeutend mit dem Verlust der ursprünglichen Unschuld ist. Scholl kombiniert für seinen Film ganz klassisch zeitgenössisches Dokumentarmaterial und heutige Interviews; ein Streitgespräch zwischen den Repräsentanten der unterschiedlichen Positionen wäre womöglich spannender gewesen. Die unscharfen Aufnahmen aus den Neunzigern stehen zudem in merkwürdigem Kontrast zu den aktuellen Bildern; als wäre die Love Parade ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten, was im Grunde ja auch stimmt.
Das zeigt sich nicht nur im Epilog, sondern spätestens in einer von Arte fast zeitgleich ausgestrahlten Sendung. Mit ihrem Film "Loveparade - Die Verhandlung" dokumentieren Antje Boehmert (Buch und Produktion) und Dominik Wessely (Regie) den Prozess gegen den Veranstalter und die Stadt Duisburg. Bei der Tragödie sind wegen eines Engpasses, der sich als Todesfalle entpuppte, 21 Teilnehmer gestorben, die Zahl der Verletzten lag wohl bei über 650 Menschen. Der gleichfalls neunzig Minuten lange Dokumentarfilm ist in jeder Hinsicht das denkbar größte Kontrastprogramm zu Scholls Gute-Laune-Hommage: hier "Friede, Freude, Eierkuchen" (wie das Motto der ersten Love Parade lautete), dort das pure Grauen. Zwischendurch zeigt Wessely eine Szene aus einem Smartphone-Video kurz vor der Katastrophe. Die Partystimmung kippt, der Bildschirm wird schwarz, aber der Ton läuft weiter; die Schreie gehen durch Mark und Bein.
Filmisch ist die Chronik allerdings ein trockener Stoff. Wichtige Prozessmomente rekonstruieren Boehmert und Wessely, indem sie Sprecher die Dialoge nacherzählen lassen. Zu sehen ist derweil ein riesiger leerer Saal; das Landgericht Duisburg hatte die Hauptverhandlung dieses größten Strafverfahrens der deutschen Nachkriegsgeschichte ins Düsseldorfer Kongresszentrum verlegt. Ansonsten besteht der Film überwiegend aus Aussagen der Prozessbeteiligten (Oberstaatsanwalt, Vorsitzender Richter, Gutachter, Vertreter der Nebenkläger). Das klingt wenig spektakulär; immerhin sorgen die Angehörigen dafür, dass es nicht allein um technische und juristische Details geht. Das ganze Bild der Love Parade ergibt sich erst durch beide Filme.