Die Ausgangsbasis ist ganz einfach und dennoch überaus komplex, weil es zwischen den Beteiligten diverse offene Rechnungen gibt, zumal im Verlauf des Tages noch einige hinzukommen: Der Wiener Nachrichtenmoderator Hubert (Josef Hader) und seine Frau Helga (Brigitte Hobmeier) wollen seine Mutter Marianne besuchen; die alte Dame wird neunzig und weiß noch nicht, dass sich das Paar bereits vor zwei Jahren getrennt hat. Hubert will die Gelegenheit nutzen, seine neue Freundin Patricia (Pia Hierzegger, auch im wahren Leben Haders Lebensgefährtin) vorzustellen; Helga wird von ihrem neuen Partner Wolfi (Andreas Kiendl) begleitet. Sie hat zwei Töchter mit Hubert und erwartet ein Baby von Wolfi, der wiederum einen Sohn hat.
Die vier Erwachsenen und die drei Kinder quetschen sich nun in ein Auto und fahren nach Graz, wo sie erst mal eine Schrecksekunde erleben: Vor Huberts Elternhaus steht ein Rettungswagen. Es ist nur ein Schwächeanfall, aber der Notarzt schärft der Familie ein, Marianne (Christine Ostermayer) dürfe sich nicht aufregen. Hubert hat ihr zu Patricias Verblüffung noch gar nichts von der Trennung erzählt und will deshalb erst mal alles beim Alten belassen. Notgedrungen willigen die anderen ein, die Posse mitzuspielen. Wolfi, stets bemüht, auch unangenehmen Ereignissen etwas Gutes abzugewinnen, lässt sich willig zu Helgas Bruder umdeklarieren. Die konsternierte Patricia, dank Kleidung, Frisur und Make-up ohnehin eine Art dunkler Gast, schlüpft weitaus weniger willig in die Rolle seiner Freundin; und Marianne hadert ein bisschen mit ihrem Gedächtnis, weil sie nicht mehr weiß, dass Helga einen Bruder hat; und nun beginnt ein durch die verschiedenen Gänge der Menüfolge strukturiertes Drama, in dessen Verlauf nicht nur die Nachbarskatze auf der Strecke bleibt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Konstellation erinnert an die Filme von Stefan Krohmer (zuletzt "Zur Hölle mit den anderen"), der seit seinen Grimme-preisgekrönten Tragikomödien "Ende der Saison" und "Familienkreise" (2001/2003) und meist nach Drehbüchern von Daniel Nocke immer wieder ganz ähnlich konzipierte Geschichten erzählt. Autorin dieser Koproduktion zwischen ORF und SWR ist jedoch Patricia-Darstellerin Pia Hierzegger; "Die Notlüge" ist ihr erstes Spielfilmdrehbuch. Regie führte Marie Kreutzer, die bislang nicht mal eine Handvoll Filme gedreht hat. Davon ist jedoch nichts zu merken. Die Arbeit mit den außer Hader und Hobmeier hierzulande kaum bekannten Schauspielern ist außerordentlich gut; gerade die ganz jungen Darsteller hat Kreutzer auf bemerkenswerte Weise geführt, was in diesem Fall besonders wichtig war, weil die drei großen Anteil an der Handlungsentwicklung haben: Während die pubertierende Kathi (Tamara Hollosy) Das Spiel mitmacht, weil Hubert ihr ein neues Smartphone verspricht, ansonsten jedoch nur Verachtung für ihre Verwandtschaft übrig hat ("Ihr habt ja einen Vollschuss"), verplappern sich die beiden kleineren Kinder regelmäßig.
Aber auch die Erwachsenen fallen immer wieder mal aus ihren Rollen, weshalb sich zur titelgebenden Notlüge noch viele weitere Schwindeleien gesellen, bis das fragile Gebilde am Ende wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Hierzegger hat die im Grunde einfache Handlung noch um einige Nebenfiguren ergänzt, zu denen neben Mariannes Schwester Traude (Regina Fritsch) auch ein Nachbar (Bernhard Schir) sowie der Bezirksvorsteher (Manuel Rubey) gehören. Während der Lokalpolitiker nur vorbeischaut, um pflichtgemäße Glückwünsche loszuwerden, kommt dem Katzenfreund Hebenstreit eine besondere Rolle zu, und das nicht nur, weil er Patricia, die ihren Unmut in Alkohol ertränkt, Zuflucht gewährt. Äußerst vergnüglich sind auch die vielen kleinen Seitenhiebe, die das Drehbuch mit Hilfe der Kinder austeilt; meist geht es dabei um die mit religiöser Inbrunst beherzigten Ernährungsprinzipien hipper Großstädter, die der Nachwuchs ausbaden muss, weshalb sich die Kleinen mit Wonne auf Großmutters gutbürgerliche Küche stürzen. Normalerweise bekommen solche Tragikomödien Titel wie "Familie und andere Katastrophen"; dann doch lieber etwas Schlichtes wie "Die Notlüge".