Weil ihr Film für die ZDF-Reihe "37 Grad" entstanden ist, stehen ohnehin die Menschen im Mittelpunkt. Der Ansatz ist geschickt: Balci stellt eine Frau und zwei Männer vor, die sich uneigennützig engagieren. Auf diese Weise kann sie die Missstände dokumentieren und muss trotzdem nicht alles schwarz malen. Das wiederum wird nicht leicht gewesen sein. Spätestens der Besuch bei Einwanderern aus Bulgarien dokumentiert auf bedrückende Weise, wie die Bewohner des Viertels leben. Dabei hat es diese Familie trotz beengter Verhältnisse und des Schimmels an den Wänden noch halbwegs gut getroffen: Sie hat immerhin ein eigenes Badezimmer. Viele müssen sich das Klo mit weiteren Hausbewohnern teilen, andere haben weder Bad noch WC und zahlen dennoch absurd hohe Mieten.
An diesen menschenunwürdigen Verhältnissen können auch Balcis Protagonisten nichts ändern; aber Stefan Samel und Peter Deffaa wollen wenigstens verhindern, dass die Kinder der zu einem großen Teil aus Osteuropa stammenden Einwohner von vornherein Hartz-IV-Kandidaten werden. Deffaa ist Schulleiter an der Neckar-Grundschule. Er hat sich fest vorgenommen, dass kein Kind zurückbleiben soll; auch nicht während der Corona-Phase. Also hat er die Schüler mit Tablets versorgt und sich bei Hausbesuchen davon überzeugt, dass sie auch ihre Aufgaben machen. Die meisten Eltern sprechen kein Deutsch, obwohl sie zum Teil schon viele Jahre hier leben; unter solchen Bedingungen ist "Homeschooling" kaum vorstellbar.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Damit die Kinder ihre Freizeit nicht zwischen Straßenstrich und Spielplatz verbringen müssen, hat Samel vor 15 Jahren die Initiative "Aufwind" gegründet. Trotz der offenkundigen Problematik im Viertel gibt es hier keine Ganztagsschule. In den großzügigen Räumlichkeiten einer ehemaligen Kirche bietet "Aufwind" Hausaufgabenbetreuung und Spielmöglichkeiten für 25 Kinder. Mit berechtigtem Stolz erzählt Samel, dass es viele seiner Schützlinge dank der Initiative auf eine weiterführende Schule geschafft haben. Er hat sie von der Straße geholt, die in dieser Gegend wahrlich kein gutes Pflaster ist. Trotzdem klingt er wenig zuversichtlich, was die zukünftige Entwicklung des Stadtteils angeht; in Mannheim ist Neckarstadt-West so etwas wie das Synonym für Armut und Abstieg.
Umso respektabler ist das Engagement der Protagonisten dieses Films. Bei aller Hochachtung der Autorin für das Trio: Balci überhöht die drei nicht; das macht ihren Film sehr sympathisch. Ähnlich sachlich wie die beiden Männer schildert auch Julia Wege ihre Arbeit. Die Frau sieht gar nicht aus wie eine Streetworkerin, leistet mit ihrem Verein "Amalie" aber unschätzbar wichtige Lebenshilfe für viele Prostituierte, denn in Neckarstadt-West befindet sich auch ein Rotlichtbezirk. Neben der grassierenden Kriminalität ist dies ein weiterer Grund dafür, warum die Eltern ihre Kinder nur ungern allein vor die Tür lassen; vor allem abends. Wenn es dunkel wird, traut sich aber offenbar ohnehin kaum noch jemand raus; dann gehören die Straßen den Rockern und Clan-Mitgliedern aus Osteuropa, die das Viertel beherrschen.
Julia Wege engagiert sich im Bereich der Armutsprostitution. Ihr Verein bietet den Frauen, die in der Regel keine Krankenversicherung haben, unter anderem eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Viele sind zudem obdachlos, sie wohnen bei ihren Zuhältern, die den weitaus größten Teil ihrer Einnahmen kassieren; den Rest schicken sie ihren Familien in Rumänien oder Bulgarien. Eine Corona-Pause kam für sie nicht in frage; sie leben ohnehin von der Hand in den Mund. Julias Klientinnen sind oft genug die Mütter der Schülerinnen und Schüler von Peter Deffaa. Das Trio trifft sich regelmäßig zum Austausch. Die drei wissen: Wenn sie sich nicht um die Probleme der Menschen kümmern, tut es keiner; der Rest der Welt hat Viertel wie Neckarstadt-West vergessen.