Frauke Lodders beleuchtet mit "Unzertrennlich" eine ganz spezielle Spielart dieser Konstellation. Wenn schon gesunde Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern dem Bruder oder der Schwester mehr Zeit widmen: Was heißt das dann erst für Jungen und Mädchen, deren Geschwister behindert oder schwer krank sind? Die Dokumentarfilmerin stellt vier Familien vor, die nicht nur unterm Altersaspekt sehr geschickt ausgewählt worden sind.
Eymen und Eray sind noch klein und müssen damit leben, dass ihre behinderte Schwester ihnen im Grunde keine freie Minute lässt; wenn sie mit der Mutter spielen wollen, ist Selin immer dabei. Das Mädchen hat Trisomie 18; Kinder mit diesem Gendefekt sterben zumeist schon als Säugling. Gustaf ist schon älter und spricht sehr abgeklärt und reflektiert über das Leben mit seiner behinderten kleinen Schwester Alma. Besonders interessant sind die beiden Erwachsenen: Max ist 28 und erzählt von seiner verstorbenen Schwester Judith. Svea hat gerade ein Studium begonnen und ist ausgezogen. Seither hat sie ein deutlich besseres Verhältnis zu ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder, bei dem vor einigen Jahren Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert worden ist; damals ist Svea innerhalb der Familie quasi vom Radar verschwunden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Quintett repräsentiert vier Millionen Menschen in Deutschland, die in einer ähnlichen Situation sind. Der Film behandelt ohnehin ein Thema, das auch gut zu "37 Grad" passen würde. Anders als die Beiträge zur Reportagereihe des ZDF kommt "Unzertrennlich" jedoch komplett ohne Kommentar aus; es sprechen ausschließlich die Mitwirkenden. Während die Autorinnen und Autoren von "37 Grad" gern vorgeben, sie könnten ihren Protagonisten in die Köpfe schauen, überlässt es Lodders ihrem Publikum, etwaige Leerstellen zu füllen. Außerdem verzichtet sie darauf, das Thema unnötig zu dramatisieren; dass das Leben für sämtliche Beteiligten nicht einfach ist, versteht sich von selbst. Und noch eins wird deutlich, ohne das es ausgesprochen werden muss: Für die Jungs sind ihre Schwestern nicht behindert, sondern einfach nur ihre Schwestern. Trotzdem verklärt Lodders den mitunter anstrengenden Alltag nicht; gerade Selin kann eine Nervensäge sein, wie eine lange ungeschnittene Szene dokumentiert. Alma scheint dagegen ein ziemlich witziges Mädchen zu sein.
Anders als in den Handlungssträngen mit den beiden erwachsenen Geschwistern kommen bei den kleineren Kindern auch die Eltern ausführlich zu Wort. Trotzdem sorgen Max und Svea für die gefühlvollsten Momente. Hier zeigt sich eine weitere Qualität des Films: Lodders ist ihren Protagonisten zwar sehr nahe, bewahrt aber trotzdem Distanz. Als Max erzählt, wie Judith in seinen Armen gestorben ist, kommen nicht ihm, sondern seiner Freundin die Tränen. In vielen TV-Reportagen wechseln Kameraleute in solchen Situationen reflexhaft in die Nahaufnahme, um die Emotionen bildschirmfüllend einzufangen; hier nicht. Auf diese Weise revanchiert sich die Autorin für das Vertrauen, dass ihr die Familien entgegengebracht haben: Alle Beteiligten öffnen sich auf eine Weise, wie man das nur gegenüber guten Freunden oder einem Therapeuten tut. Lodders und ihr Team durften sogar eine bewegende Gedenkfeier für die an den Folgen einer Stoffwechselkrankheit gestorbene Judith filmen.
Die Stimmung dieses durch Fackeln und Wunderkerzen illuminierten Abends, an dem Freunde und Familienmitglieder die Lieblingslieder des Mädchens singen, ist trotz aller Trauer positiv und lebensbejahend. Das gilt für den gesamten Film. Gustafs Liebe zu Alma zum Beispiel ist offensichtlich. Svea macht zwar keinen Hehl daraus, dass sie zeitweilig ein Dasein im Schatten ihres Bruders geführt hat, aber dessen mittlerweile überwundene Krebserkrankung hatte auch zur Folge, dass sie seine Existenz erst wirklich zu schätzen lernte. Max wiederum hat durch den Tod seiner Schwester erkannt, wie endlich das Dasein ist und dass man wichtige Dinge nicht auf später verschieben sollte: weil es vielleicht kein Später gibt.