Berlin (epd). Gewalt gegen Kinder wird laut Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) weltweit unterschätzt. Abgesehen von schockierenden Verbrechen, die punktuell große Beachtung finden, blieben viele alltägliche Gewalterfahrungen in Familien, der Kita, der Schule oder im Internet weitgehend unsichtbar, erklärte der Vorsitzende von Unicef Deutschland, Georg Graf Waldersee, am Donnerstag in Berlin. Anlass war der 20. Jahrestag der Verabschiedung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung in Deutschland.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach von einem entscheidenden Schritt vor zwei Jahrzehnten, um der Verharmlosung von Gewalt in der Erziehung entgegenzutreten. Sie begrüßte zugleich die aktuelle Forderung der Unicef-Kampagne #End Violence, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Dafür sei es höchste Zeit, so Lambrecht.
Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sprach sich erneut für eine Stärkung der Kinderrechte durch Aufnahme in das Grundgesetz aus. Zudem kündigte sie an, den Kinderschutz zu verbessern: "Das ist ein zentrales Ziel des Gesetzesentwurfs zur Modernisierung des Kinder- und Jugendhilferechts, den ich in Kürze vorlegen werde."
Weltweit sind laut Unicef jedes Jahr schätzungsweise eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren - und damit jedes zweite Kind - von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen. Bis heute würde diese häufig stillschweigend akzeptiert, heruntergespielt oder sogar gerechtfertigt. Auch in Deutschland gehöre Gewalt nach Einschätzung führender Kinder- und Jugendpsychiater weiter zu den häufigsten frühen Kindheitsbelastungen.
Häufig werde Gewalt gerade durch die Menschen ausgeübt, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind, hieß es weiter. Erhebungen aus 30 Ländern zufolge sei fast die Hälfte aller Kinder zwischen zwölf und 23 Monaten zu Hause körperlichen Bestrafungen ausgesetzt. Eine ähnlich große Zahl erlebe verbale Gewalt etwa durch Anschreien oder Beschimpfen.
Unicef zufolge hat die Covid-19-Pandemie die Risiken für Kinder erhöht, zu Hause Opfer von Gewalt zu werden. Bundesregierung und Behörden forderte das Kinderhilfswerk auf, Unterstützungsangebote in der Krise auszubauen.
Der Präsident der Deutschen Traumastiftung, der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, warf den deutschen Behörden vor, den gesetzlich verankerten Kinderschutz nicht umzusetzen: "Die großen Alltagsprobleme im Kinderschutz liegen in der Praxis." Fegert kritisierte unter anderem mangelnde Personalausstattung "in vielen Bereichen" und schlechte Ausbildung. Dennoch sei die Aufnahme der gewaltfreien Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch ein wichtiger Schritt gewesen. Seitdem habe sich das gesellschaftliche Bewusstsein geändert.
Schätzungsweise 1,1 Milliarden Eltern und Erziehungsberechtigte weltweit halten laut Unicef Schläge und Körperstrafen für ein notwendiges Disziplinierungsmittel. Bis heute lebe nur etwa eins von zehn Kindern unter fünf Jahren in einem Land, in dem körperliche Bestrafung vollständig verboten ist. In Deutschland berichten laut Unicef in einer Untersuchung von 2017 etwa 31 Prozent der Befragten von Misshandlungen "mit mindestens moderatem Schweregrad".