Mit Ausnahme weniger Dialogsätze aber ist die 2017 erstmals ausgestrahlte 55. Folge durch und durch Krimi: Nach einem Abend in der Disco ist eine Schülerin verschwunden. Als Hauptverdächtiger gilt ausgerechnet Ekki Talkötter (Oliver Korittke), der beste Freund von Privatdetektiv Wilsberg (Leonard Lansink): Jemand hat gesehen, wie Emelie (Annika Schrumpf) beim Trampen in sein Auto gestiegen ist. Weil sich die Nachricht in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreitet und in der Gegend bereits zwei andere junge Frauen entführt und ermordet worden sind, macht schließlich halb Münster Jagd auf den harmlosen Finanzbeamten.
Damit ist der Film auch bei seinem Thema: "Straße der Tränen" ist eine Parabel auf die weniger schönen Seiten des Internets. Da es möglicherweise immer noch Menschen gibt, denen das weltweite Netzwerk ein Buch mit sieben Siegeln ist, trifft es sich ganz gut, dass Wilsberg eine profunde Skepsis gegenüber den Errungenschaften der modernen Technik pflegt. Mit Anfang sechzig liegt der Antiquar exakt im Altersdurchschnitt des öffentlich-rechtlichen Publikums; wenn Anwältin Alex (Ina Paule Klink) ihm erklärt, wie das Internet funktioniert, ist das selbstredend auch ein Crashkurs für die ZDF-Zuschauer. Das Drehbuch (Sandra Lüpkes und "Wilsberg"-Schöpfer Jürgen Kehrer) bettet die Ausführungen von Wilsbergs früherem Schützling allerdings weitgehend harmonisch in die Handlung, und Dominic Müller, der seit 2012 ausnahmslos sehenswerte "Wilsberg"-Krimis gedreht hat (unter anderem "Bauch, Beine, Po", "90 - 60 - 90", ebenfalls sehr ernst, und vor allem "Entführung"), begeht nicht den Fehler, die vielen gut leserlich eingeblendeten Botschaften auch noch vorlesen zu lassen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mit den Rollen hat es sich das Drehbuch allerdings etwas zu leicht gemacht. Gerade die wenig sympathischen Eltern (Philipp Moog, Regula Grauwiller) der verschwundenen Emelie Boll sind etwas lieblos gestaltet. Die Jugendlichen, die sich an der Suche nach dem Mädchen beteiligen, entsprechend den erwartbaren Klischees: Nerd Julius (Timon Ballenberger) kommt mit echten Menschen nicht zurecht und zieht sich lieber in sein mit Technik vollgestopftes Zimmer zurück. Dustin (Rick Okon) neigt geradezu zwanghaft dazu, alles, was ihm widerfährt, in den sozialen Medien zu verbreiten; er ist es auch, der zur Jagd bläst, als er zufällig mitbekommt, wie Ekki erst verhaftet und kurz drauf wieder freigelassen wird. Und dann ist da noch die DJane (Jytte-Merle Böhrnsen) aus dem Club, die alles für bare Münze nimmt, was sie im Netz liest. Dass die jungen Schauspieler gerade im Vergleich mit den etablierten Kräften mitunter ähnlich übereifrig agieren wie ihre Figuren, macht die Sache nicht besser.
Das "Wilsberg"-Ensemble dagegen trifft wie immer den richtigen Ton, zumal keiner aus dem Quintett als fünftes Rad am Wagen mitgeschleppt werden muss: Alex ist die Anwältin der Bolls, die sich einvernehmlich scheiden wollen, Ekki ist ohnehin betroffen, Wilsberg will den Fall aufklären, um die Unschuld seines Freundes zu beweisen. Und weil das Duo von der Polizei immer dann am interessantesten ist, wenn Kommissarin Springer (Rita Russek) und ihr Mitarbeiter Overbeck (Roland Jankowsky) zwar im selben Boot sitzen, aber in unterschiedliche Richtungen rudern, repräsentiert sie die klassische Polizeiarbeit und er die Technik. Das hat zwar einige heitere Momente zur Folge, aber Overbeck, in vielen "Wilsberg"-Episoden der dumme August, ist diesmal keine Witzfigur; auch wenn es recht lustig ist, wenn er mit dem Tablet durch den Wald irrt und sein Navigationssystem die Route neu berechnet, weil sich die Verkehrslage geändert hat. Selbst solche Szenen hat Müller nicht konsequent komödiantisch aufgelöst; die Grundstimmung bleibt ernst. Die obligate Bielefeld-Erwähnung ist diesmal gleichfalls kein Gag: Overbeck stellt fest, dass Dustin diverse Vorstrafen hat und die JVA Bielefeld-Sennestadt nur auf Bewährung verlassen durfte.
Roter Faden der Geschichte ist nicht zuletzt die Konfrontation zwischen analoger und digitaler Welt, aber auch hier folgt der Film seiner Linie und setzt nicht auf das komödiantische Potenzial, sondern auf Pädagogik. Das beginnt schon mit der Einführung, als Emelie nach kurzer Stippvisite bei einer Suchmaschine Ekkis biografische Eckdaten aufzählt ("harmloser und öder geht’s nicht"). Protagonisten dieser Handlungsebene sind die Ermittler, denn Overbeck ("Overbeck, Kripo Münster, Abteilung Big Data") ist überzeugt, ohne soziale Medien sei Polizeiarbeit heutzutage gar nicht mehr möglich. Wilsberg betrachtet das Internet ohnehin als natürlichen Feind; die naiven Nutzer sozialer Netzwerke hält er für "dumm wie Brot". Diese mitunter allzu pädagogische Attitüde gipfelt in einem Schlussdialog, als eine junge Frau ihm sagt, analog sei "nur was für alte Säcke", und Wilsberg das Mädchen belehrt: "Richtige Freunde gibt’s nur im richtigen Leben." Da ist die Anspielung auf Fritz Langs Klassiker "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" ungleich eleganter (Dustin sprüht ein großes M auf Ekkis Auto), und wenn Julius vor den Monitoren thront und mit Hilfe seiner Technik die Bewegungsprofile aufruft, erinnert das sicher nicht zufällig an "Die 1000 Augen des Dr. Mabuse" (ebenfalls von Lang). Sehenswert ist auch die Bildgestaltung, zumal Kameramann Ralf M. Mendle gerade bei den Nachtaufnahmen auf sehr interessante Weise mit dem Licht arbeitet. Matthias Weber sorgt für die passende Thriller-Musik zu diesem allen Anmerkungen zum Trotz sehenswerten Münster-Krimi, selbst wenn alte Hasen zu früh ahnen, wer oder was hinter der Entführung steckt.