Göttingen (epd). Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) hält den Kampf gegen den Klimawandel für eine weitaus größere politische Herausforderung als den Kampf gegen die Corona-Pandemie. "Die Corona-Krise ist eine sichtbar eingetretene Krise, die kurzfristig bekämpft werden muss", sagte Trittin dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Göttingen. Bei der Klimakrise gehe es hingegen "um die Begrenzung einer langfristigen und nicht-reversiblen Krise", für die einschneidende Maßnahmen oder sogar eine komplette Veränderung unserer Wirtschaftsweise auf den Weg gebracht werden müssten. "Und das ist unendlich viel schwieriger", betonte Trittin.
Zwar treffe die Klima-Katastrophe mit voller Wucht zunächst andere, sagte Trittin. In Sibirien habe die Temperatur im Mai zehn Grad über den langfristigen Durchschnittstemperaturen gelegen. Das Auftauen von Permafrostböden sei ein nicht-reversibler Prozess: "Wir sind da über einen der Kipp-Punkte hinweg." Aber auch in Deutschland sei das Problem längst sichtbar: "Wenn ich wie neulich bei einem Besuch im Emsland sehe, dass auf früheren Moorflächen heute Sandtornados entlangwandern, dann ist der Wandel schon heute eindrücklich erlebbar." Dieses Erleben sei einer der Gründe, warum sich so viele jüngere Menschen "Fridays for Future" engagierten.
Nach Ansicht von Trittin hat der der politische Druck der Klimabewegung zu verändertem Regierungshandeln geführt. Das gelte für das kürzlich verabschiedete Konjunkturpaket der Bundesregierung ebenso wie für den "Green Deal" der Europäischen Kommission. Diesbezüglich habe gegenüber der Finanzkrise von 2009 ein Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit stattgefunden. Damals habe Deutschland vor allem darauf geachtet "ganz blind mit keynesianisch finanzierten Maßnahmen" die Wirtschaft wieder hochzufahren, "während in Ostasien, Südkorea und China gezielt die Krise genutzt worden ist, um in Batterietechnologien, erneuerbare Energien und ähnliches zu investieren."
Dass die Corona-Krise als derzeit dominierendes Thema den Klimaschutz ausbremst, glaubt Trittin nicht. "In der kurzfristigen Betrachtung hat Corona sogar dazu geführt, dass nach den Schätzungen der Internationalen Energieagentur die Treibhausgase in diesem Jahr um mehr als fünf Prozent zurückgehen werden". Das sei der größte Rückgang seit langem. Ob dieser Positiveffekt für die Erdatmosphäre dauerhaft sei, müsse sich aber erst noch erweisen: "Die spannende Frage ist: Werden wir, wenn wir aus dieser Rezession rauskommen, den Emissionsrückgang durch noch mehr Treibhausgase verspielen? Oder gibt es tatsächlich ernsthafte Bemühungen, sie dauerhaft zu reduzieren?" Das sei eine noch offene Frage - "und vor allem eine der politischen Auseinandersetzung", unterstrich Trittin.