"Sterne über uns" hat Christina Ebelt ihr Regiedebüt genannt. Das klingt romantisch, doch der Film ist weit davon entfernt, Mellis Situation zu verklären. Es gibt zwar in der Tat ausgelassene Momente, in denen die Mutter die Zweisamkeit mit ihrem Sohn genießen kann, doch ansonsten macht die Regisseurin keinen Hehl daraus, wie fragil dieses unbehauste Dasein ist, denn die meiste Zeit hat Melli Angst, Ben zu verlieren.
Ebelt und ihre Koautorin Franziska Krentzien haben die Handlung betont episodisch konzipiert, was dem Film einen dokumentarischen Anstrich gibt. Im Grunde hat er nicht mal Anfang oder Ende. Auch die Vorgeschichte wird nicht ausdrücklich erzählt und ergibt sich aus Andeutungen: Melli, von Franziska Hartmann ungemein eindringlich verkörpert, hat mit Ben in einer von Schimmel befallenen Wohnung gelebt. Als sie sich geweigert hat, die Miete zu zahlen, ist ihr gekündigt worden. Ihre demente Mutter lebt in einem Pflegeheim; Freunde, die sie vorübergehend aufnehmen könnten, gibt es wohl nicht. Mit Mitte dreißig ist sie auch zu stolz, um zu betteln. Selbst dem hilfsbereiten Lehrer (Kai Ivo Baulitz) ihres Sohnes, mit dem sie eine Beziehung beginnt, offenbart sie nicht, wie es wirklich um sie steht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die ganz spezielle Wirkung dieses Dramas resultiert nicht zuletzt aus der Ausweglosigkeit seiner Hauptfigur. Die Arbeit als Flugbegleiterin in der Probezeit ist die einzige Konstante in Mellis Leben, hat aber auch den Stress zur Folge, unter dem viele alleinerziehende Mütter leiden: Wenn ein Flug Verspätung hat, kann sie Ben nicht rechtzeitig von der Grundschule abholen. Das Jugendamt ist bereits auf die Kleinstfamilie aufmerksam geworden. Wenn die Sachbearbeiterin erfährt, dass Mutter und Kind obdachlos sind, wird man Melli den Jungen wegnehmen. Dieses Dasein in ständiger Sorge überträgt sich unmittelbar aufs Publikum. "Sterne über uns" ist kein Film für Menschen, die es nicht aushalten können, wenn andere einen Drahtseilakt absolvieren, weil solche Zuschauer prompt das Schlimmste befürchten: Melli wird ihren Job verlieren, Mutter und Kind werden im Wald überfallen, ihr Zelt wird zerstört, irgendjemand verpfeift sie beim Jugendamt.
All’ das tritt jedoch nicht ein, denn Ebelt hütet sich davor, die Dinge zuzuspitzen. Das braucht sie auch gar nicht. Dank der dokumentarisch anmutenden Bildgestaltung – ein Eindruck, der durch den Verzicht auf Musik noch verstärkt wird – ist Mellis Schicksal bedrückend genug. Wie bei einer Fallstudie schildern die Autorinnen den Teufelskreis, in dem die Frau steckt: Weil sie die Miete nicht bezahlt hat, hat sie einen Schufa-Eintrag; wegen des Schufa-Eintrags findet sie keine neue Wohnung. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen. Sie ist ihrem Sohn eine liebevolle Mutter und erscheint pünktlich und adrett zur Arbeit. Entsprechend groß wird im Verlauf des Films der Respekt vor dieser Frau. Anfangs, als die Ursachen für das vermeintliche Aussteigerleben noch unklar sind, wirkt sie noch unnahbar, zumal Franziska Hartmann keinerlei Wert darauf zu legen scheint, Melli als Identifikationsfigur zu verkörpern. Später kann sie es sich sogar leisten, auch mal auszurasten, ohne an Sympathie einzubüßen. Entsprechend herzzerreißend ist schließlich die Szene, als sie keinen Ausweg mehr sieht. Der kleine Claudio Magno macht seine Sache als Ben ebenfalls ganz vorzüglich, sodass die Szenen mit Mutter und Sohn von inniger Glaubwürdigkeit sind.
Christina Ebelt war als Autorin an zwei ausgezeichneten Dramen über häusliche Gewalt beteiligt, "Gegenüber" (2007) und "Es ist alles in Ordnung" (2013). Mit "Sterne über uns" wollte sie beschreiben, wie schnell man in unserer Gesellschaft am Abgrund stehen kann. Der Film ist ursprünglich fürs Kino entstanden, dort aber nicht nennenswert ausgewertet worden. Das Drama ist eine Koproduktion der ZDF-Redaktion Das Kleine Fernsehspiel. Die Nachwuchsarbeiten laufen normalerweise erst nach Mitternacht. Umso respektabler, dass das "Zweite" Ebelts Film bereits um 20.15 Uhr ausstrahlt; er hat es verdient.