Die 19jährige Jette (Maj-Britt Klenke) will in einem Krankenhaus in Costa Rica ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren. Auf dem Weg zum Flughafen geht jedoch Einiges schief, und weil sie sich ohnehin nicht von ihrem Freund Mario (Thomas Schubert) trennen kann, verpasst sie kurzerhand den Abflug.
Die Geschichte hätte sich nun zur komödiantische Scharade entwickeln können: Jette tut so, als ginge sie ihrer Arbeit in der Klinik nach, versorgt Freunde und Familie mit Selfies aus dem Tropenhaus eines Botanischen Gartens und erfreut sich ansonsten der unverhofften Freiheit mit Mario. Tatsächlich ist der erste Fernsehfilm des Duos Köhler und Winckler, das gemeinsam für Buch und Regie verantwortlich war, ein Vater/Tochter-Drama; der Vater ist letztlich sogar die wichtigere Rolle. Sebastian Rudolph legt den alleinerziehenden Urs, ein Arzt um die fünfzig, jedoch als ausgesprochen traurige Gestalt an. Seine Sorge um die vermeintlich verschwundene oder womöglich von Mario entführte Tochter ist zwar verständlich, aber ansonsten taugt er nicht als Identifikationsfigur. Dass seine deutlich jüngere attraktive Praxishilfe (Katrin Röver) trotz eigener Familie ein Verhältnis mit ihm hat, bleibt eine Behauptung, die der Film nicht überzeugend untermauern kann.
Die Motive der nur scheinbar sprunghaften Jette sind hingegen gut nachvollziehbar: Wie so viele Abiturientinnen und Abiturienten hat die junge Frau keinen Plan; gut möglich, dass das FSJ eine Idee des Vaters war, der seine Tochter zu ihrem Glück zwingen wollte. Die Geschichte spielt irgendwo in der westfälischen Provinz (gedreht wurde im Raum Detmold), wo jeder jeden kennt. Die Scharade wäre also ohnehin nur möglich gewesen, wenn Jette tatsächlich verreist wäre, aber sie hängt an ihrer Heimat. Mario informiert seine Mutter, die ruft umgehend Jettes Vater an, und der sammelt die Tochter prompt wieder ein. Erneut ist die Geschichte im Grunde vorbei, aber der Film ist noch längst nicht zu Ende.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Köhler und Winckler reduzieren die Handlung auf drei Tage. Allein das Verpassen des Fliegers nimmt ein Drittel der Filmzeit ein, denn den Männern unterlaufen einige Missgeschicke: Weil Urs aufgehalten wird, soll Mario seine Freundin zum Flughafen bringen; dort rammt er allerdings den Dachbox von Urs’ Campingbus gegen die Höhenbegrenzung am Flughafenparkhaus. Derweil ist Urs damit beschäftigt, seinen Bruder Falk zu retten. Eigentlich wollte er nur Jettes Kamera holen. Da Falk nicht öffnet, obwohl er offenkundig zuhause ist, klettert Urs auf den Balkon und späht durchs Rollo. Er glaubt, Falk leblos auf dem Sofa zu sehen, und bricht die Wohnungstür auf; spätestens jetzt beginnt der Film mit der Demontage seiner männlichen Hauptfigur. Später rennt Urs der fliehenden Jette wie ein Triebtäter hinterher, was ihm prompt eine schmerzhafte Abreibung einbringt. Kurz und gut: Der Mann hat offenkundig ein Problem. Der Film kommt allerdings nicht dazu, sich mit den Gründen für das seltsame Verhalten zu befassen, weil sich die Handlung nun wieder Jette zuwendet.
Gespielt ist das allerdings sehr gut. Sämtliche Figuren sind ganz normale Leute, die auch in der Nachbarschaft wohnen könnten; daher wohl auch die Entscheidung, die Rollen mit kaum bekannten Darstellern zu besetzen. Sebastian Rudolph ist zwar ein erfahrener Theaterschauspieler, dürfte den meisten Zuschauern aber allenfalls gesichtsbekannt sein; gut in Erinnerung ist noch sein Rudolf Augstein in dem historischen Drama "Die Spiegel-Affäre". Ganz ausgezeichnet ist auch Maj-Britt Klenke in ihrer ersten Langfilmhauptrolle. Sie hat womöglich am meisten von einer speziellen Arbeitsweise des Duos Köhler und Winckler profitiert: Die beiden haben ihre Hauptdarsteller während einer Probenwoche einige Szenen improvisieren lassen und die entsprechenden Dialoge dann ins Drehbuch übernommen; kein Wunder, dass viele Gespräche so authentisch wirken. Aus dem Stegreif gespielt ist auch die witzigste Szene dieses Films, der ohne eigens komponierte Musik auskommt, als Jette an einer Waschstraße eine witzige Showeinlage liefert und allerlei Schabernack mit dem Hochdruckreiniger treibt. "Das freiwillige Jahr" ist 2019 beim Filmfest Hamburg mit dem Produzentenpreis ausgezeichnet worden.