Der Film beginnt mit einer Sitzung bei Polizeipsychologin Rosenberg (Juliane Köhler), mit der den Polizisten mehr als bloß berufliche Belange verbinden. Der Sekundenzeiger rast dahin; Ballauf sagt kein Wort. Auch die Gespräche mit dem Freund und Kollegen Schenk (Dietmar Bär) verlaufen einseitig. Ermahnungen des Kollegen beantwortet er mit Schweigen.
Diese Ebene der Geschichte – das Drehbuch ist von Christoph Wortberg, der für das Kölner Duo auch die Episoden "Familien" und "Nachbarn" geschrieben hat – bildet zwar nur den Hintergrund für den eigentlichen Fall, nimmt aber immer wieder Einfluss auf die Ermittlungen, die die Kommissare schließlich in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik führen. Deren Chefarzt, Professor Krüger, ist erschossen worden. Seine letzte SMS, verschickt an einen alten Freund, galt einer Patientin. Diese Julia (Frida-Lovisa Hamann) entpuppt sich als Schicksalsgefährtin Ballaufs, weshalb die beiden rasch einen guten Draht zueinander finden. Die junge Frau hat laut Krüger eine Borderline-Persönlichkeitsstörung und leidet zudem unter einer Psychose, die durch eine Schwangerschaft ausgelöst worden ist; sie hingegen ist überzeugt, dass sie längst geheilt ist und ihr Unrecht geschieht.
Tatsächlich findet Ballauf mit Hilfe von Lydia Rosenberg heraus, dass Julias Verdacht begründet ist: Sollte die Diagnose zutreffen, würde die von Krüger gewählte Therapie das Krankheitsbild sogar noch verstärken. Die Frau hätte also durchaus Grund, sich an dem Arzt zu rächen, aber sie hat ein ähnlich hieb- und stichfestes Alibi wie ein Gefängnisinsasse. Außerdem gibt es noch jemanden, der mit Krüger eine alte Rechnung offen hatte, und nun rückt auch dessen Freund ins Visier der Ermittlungen: Strafverteidiger Weiss (Andreas Döhler) kümmert sich zusammen mit seiner Frau um das Baby von Julia; Christine Weiss (Franziska Junge) ist ihre Schwester. Krüger ist mit der Pistole des Anwalts erschossen worden, aber das ergibt aus Ballaufs Sicht alles keinen Sinn.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Gefangen" ist durchgehend spannend, wenn auch nicht im Sinn eines Thrillers; die Intensität resultiert vor allem aus der psychischen Instabilität des Kommissars. Immer wieder taucht vor seinem geistigen Auge die erschossene Kollegin Melanie Sommer (Anna Brüggemann) auf. Beim Schießtraining steht sie plötzlich zwischen Ballauf und der Zielscheibe. Er ballert sein Magazin leer, aber nun erscheint sie neben ihm: "So funktioniert das nicht, Herr Ballauf. Ich bin schon tot." Selbst im Schwimmbad schwebt sie wie ein Phantom unter Wasser. Kein Wunder, dass der Kommissar angesichts dieses fortgesetzten Rendezvous’ mit einer Leiche das Gefühl hat, verrückt zu werden.
Isa Prahl hätte diese Szenen auch wie Momente aus einem Horrorfilm inszenieren können, aber sie verzichtet auf jegliche Schock- oder Gänsehauteffekte; es geht einzig und allein darum zu dokumentieren, dass Ballauf ein ganz erhebliches Problem hat. Eine Einstellung gleich zu Beginn zeigt Ballauf, dem angesichts von Krügers Leiche schlecht wird, regelrecht in die Ecke gedrängt, während das Bild ansonsten schwarz bleibt. Ähnlich ausgeklügelt ist eine Einstellung, bei der die Kamera (Moritz Anton) ein kleines Stück zur Seite fährt, und schon eröffnet sich eine neue Perspektive. In den wichtigen Szenen ist sie aber stets ganz nah an den Figuren, was gerade den Gesprächen zwischen Ballauf und Julia eine große Nähe verleiht. Hier erlebt Ballauf endlich die nötige Therapie, denn sie kann als einzige nachvollziehen, was in ihm vorgeht: "Wir sitzen beide in einem Gefängnis; ich in dieser Klinik und Sie in ihrem Kopf." In Julias düster-morbiden und eigens für den Film angefertigten Zeichnungen wiederum erkennt der Kommissar die Verletztheit der eigenen Seele.
Vor ihrem "Tatort"-Debüt hat Prahl zuletzt im Rahmen der ZDF-Reihe "Friesland" die sehenswerte Folge "Hand und Fuß" und zuvor für den NDR mit "Was wir wussten – Risiko Pille" gedreht. Der Tatsachenfilm über die Gefahren der Anti-Baby-Pille hatte jedoch gewisse Schwächen, weil das Drama zuviel Zeit mit einer Nebenebene vertat. Zwei entscheidende Schwachstellen gibt es auch in "Gefangen": Seltsamerweise stellt niemand die Frage, wer der Vater von Julias Baby ist; und erfahrene Krimi-Fans ahnen viel früher als die beiden Kommissare, welches Motiv sich hinter dem Komplott gegen die Patientin verbirgt. Davon abgesehen bewegt sich "Gefangen" auf hohem "Tatort"-Niveau: Die Arbeit mit den Schauspielern ist exzellent, die Bildgestaltung von den Aufnahmen im nächtlichen Schwimmbad bis hin zu den Blicken direkt in die Kamera gegen Ende sehr besonders. Die Musik von Volker Bertelmann ("Hauschka") hält sich unauffällig im Hintergrund, unterstreicht aber Ballaufs Gefühl der völligen Isoliertheit.