So reagieren die Ärmsten der Welt auf die Corona-Pandemie

Filipinos erhalten Giveaways der Regierung
© Ezra Acayan/Getty Images
Filipinos erhalten inmitten der Coronavirus-Pandemie Giveaways der Regierung.
So reagieren die Ärmsten der Welt auf die Corona-Pandemie
Die Corona-Pandemie wird überall als Bedrohung erlebt. Die Versuche, sie zu deuten, schüren Fremdenhass und bringen gefährliche Verschwörungstheorien und die Suche nach Sündenböcken hervor, berichtet Romana Büchel von der katholischen Hilfsorganisation Fastenopfer. Es gibt aber auch Hilfe.

Für Menschen in armen Ländern Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens, von denen viele Tag für Tag ums Überleben kämpfen müssen, ist die Corona-Pandemie eine zusätzliche und unheimliche Bedrohung. Niemand weiß, wie sich das Virus in Ländern ausbreiten wird, in denen schon in normalen Zeiten der Ernährungszustand prekär, die sanitären Einrichtungen mangelhaft und die Gesundheitssysteme marode sind. Schnell machen nun auch dort wilde Gerüchte die Runde. Denn wenn etwas Neues und Bedrohliches auftaucht – und das Corona-Virus ist neu, unbekannt und gefährlich –, suchen Menschen stets es zu erklären, einzuordnen und oft auch Schuldige dafür zu identifizieren. Wie im Norden wird dazu im Süden phantasievoll spekuliert, Verschwörungstheorien tauchen auf und unliebsame Gruppen werden diffamiert.

Über solche Phänomene berichten uns Partnerorganisationen aus den 14 Ländern, die Fastenopfer unterstützt. Auf den Philippinen wird Covid-19 als Krankheit der Reichen und Schönen wahrgenommen. Denn in den lokalen Medien werden Fälle von Politikern und Politikerinnen oder anderen Berühmtheiten bekannt, die positiv auf Corona getestet wurden. Dagegen können sich die ärmeren Bevölkerungsschichten kaum einen Test leisten. Aber das Virus dürfte unter ihnen viel verbreiteter sein, als es wahrgenommen wird; das bezeugen die auffallend hohen Sterberaten in den Armenvierteln und die völlig überfüllten Leichenhäuser.

Auch in der Region unseres südafrikanischen Partnerorganisation Namko, in der Provinz North Cape, assoziiert man Corona mit der Krankheit des "reichen Mannes". Und selbst bitterarmen Haiti, in welchem sich internationale Hilfsorganisationen nur so tummeln, wird der Ursprung von Covid19 den "Blan" (Fremde, wörtlich: Weiße) zugeschrieben. Dass auch hier Verschwörungstheorien grassieren – verwundert nicht angesichts der Erfahrung, dass die Cholera-Epidemie, die das Land 2010 heimsuchte und rund 5000 Menschenleben forderte, nachweislich von nepalesischen UNO-Blauhelmtruppen ins Land gebracht worden war. Viele fürchten auch, dass es im Land bei einem grösseren Ausbruch der Krankheit zu Gewalt kommen könnte: Es wurden bereits Personen angegriffen, die verdächtige Symptome zeigten, und ein Spital attackiert, welches diese behandelte.

Corona als Mittel der "Neokolonialisierung"

Auch in der Demokratischen Republik Kongo halten viele Menschen Covid-19 für eine Krankheit der Reichen und Weißen. Nur sie hätten die Krankheit ins Land holen können, zumal nur sie sich eine internationale Flugreise leisten können. Nach dieser Logik werden dann vermeintliche Virenträger und trägerinnen oft gewaltsam stigmatisiert – so sehr, dass zum Beispiel ein betagter Belgier, der beinahe sein ganzes Leben im Kongo gelebt hat und lediglich eine Grippe durchmachte, in seinem Umfeld eine regelrechte Panik auslöste: Allein dass "er weiß und krank" war, diente als Beweis, dass er das Virus haben müsse.

Die Angst kommt nicht von ungefähr: 2019 starben im Kongo 6000 Menschen an Masern und über 2000, vor allem im Ostkongo, an Ebola. Durch beide Epidemien ist das ohnehin marode Gesundheitssystem nach wie vor geschwächt.

Außerdem wird das Virus als neue Etappe einer "Neokolonialisierung" des Kongo aufgefasst. Hintergrund dieses Gefühls ist, dass westliche oder chinesische Firmen sich dort großflächig Ressourcen aneignen und dabei die Rechte der Bevölkerung verletzen. Einige Kongolesen argumentieren sogar, die Chinesen hätten absichtlich ein Virus geschaffen, um ein allgemeines Impfprogramm einzuführen, mit dem dann Afrikaner und Afrikanerinnen einen Chip unter der Haut gepflanzt bekämen. Als "Beweis" für dieses wilde Gerücht wird laut unseren Partnern angeführt, das neue Corona-Virus habe bis anhin weder Shanghai noch Peking erreicht. Ein zweiter Verdacht lautet, die Vereinten Nationen verfolgten das Ziel, mit einem großen Hilfsaufruf Geld einzuwerben, welches dann doch nicht die Menschen erreiche, die es brauchen.

Zugleich herrscht nach zwei Jahren Restriktionen zur Eindämmung der Ebola-Epidemie nun das Gefühl, dass auch die Strategien gegen das Corona-Virus im Kongo selbst gefunden werden könnten. So ist beispielsweise die Vorstellung verbreitet, dass das Malariamittel Chloroquin zur Heilung der Krankheit ausreichen würde und das Land daher ohne Hilfe von außen auskommen könne.

Gläubige im inneren Konflikt

Im mehrheitlich muslimisch geprägten Senegal berufen sich die Menschen in Krisen meist auf Gott. Da nun aufgrund des Versammlungsverbots auch die Freitagsgebete untersagt sind, entsteht aber ein Konflikt. Denn wenn man will, dass Gott hilft, muss man ja in der Moschee zu ihm beten können. Gleichzeitig beobachten die Senegalesinnen und Senegalesen, dass sich diejenigen Gläubigen, die sich nicht ans Verbot halten und weiter vorbildlich zu Allah beten, vermehrt krank werden. Das trifft insbesondere auf die Mouriden in Touba zu. Die Mouriden gehören der sufistischen Richtung des Islam an und Touba gilt als das Mekka Senegals. Die Beobachtung, dass das Virus die Frommen in der heiligen Stadt besonders stark trifft, führt für viele Gläubige zu einem inneren Konflikt.

Aus Indien berichten Partner von Fastenopfer, dass die Ausbreitung des Virus fremdenfeindliche Ressentiments bestärkt – insbesondere gegenüber Menschen aus China. Auch Tausende von Wanderarbeitern und arbeiterinnen aus Nepal werden verdächtigt oder gar Opfer von gewaltsamen Übergriffen, weil sie als Überträger des Corona-Virus gelten. Einige versuchen nun zu Fuß von Neu-Delhi zurück nach Nepal zu gelangen, immerhin 300 Kilometer. Allerdings hat Nepal inzwischen die Grenzen zu Indien geschlossen und will selbst eigene Staatsbürger nicht mehr ins Land lassen.

Der Maya-Kalender soll die Krankheit vorhergesagt haben

Besonders eindrückliche Berichte erhalten wir aus Guatemala. Bei den Maya-Partnerorganisationen werden Erinnerungen wach an erlittenes Unrecht während der Kolonialzeit: "Es hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie die indigenen Völker von europäischen Kolonialherren mit Masern, Pocken, Tuberkulose oder Geschlechtskrankheiten angesteckt wurden. Viele dieser Krankheiten waren die Ursache für Tausende und Abertausende von Toten. Als nun Anfang 2020 das Virus zu uns kam, erschien es uns wie damals. Die Krankheit selber bewegt sich nicht, Menschen bewegen sich und bringen das Virus zu uns. Und ja, auch bei uns gibt es Gerüchte, dass die Krankheit absichtlich freigesetzt wurde – als Instrument der wirtschaftlichen Kriegsführung oder zur Geburtenkontrolle."

Partnerorganisationen in Guatemala erzählen auch, dass die Krankheit bereits im Maya-Kalender, von ihren Ältesten wie auch von Tieren prognostiziert worden sei: "Die große Erzählung unserer ajq'ijab'-Ältesten zeigt auf den 12. Ajmaq, den 21. Dezember 2019. Großvater Oxlajuj Kej sagt darin: ‚Kümmern wir uns in dieser Periode besonders um die alten Frauen und Männer, weil sie in Todesgefahr sind.‘ Von mehreren Orten wurde über ein seltsames Verhalten von Hunden berichtet. Nachts heulten sie im Gleichklang. Sie warnten die Menschen davor, dass etwas Starkes auf sie zukommen werde. Auch die Hähne krähten während mehreren Stunden ununterbrochen. Sie waren gestresst; so auch andere Vogelarten wie Eulen, die den Ausbruch der Krankheit angekündigt haben. Dies ist unsere Art, die Natur zu verstehen, es ist kein Aberglaube." Soweit das Zitat aus Guatemala.

Wie gehen die Partnerorganisationen von Fastenopfer mit der Krise und mit der Vielfalt an Erklärungsmustern und lokalen Konzepten um? Praktisch alle arbeiten trotz Einschränkungen etwa der Reise- und Versammlungsmöglichkeiten weiter und verfolgen nun drei Schwerpunkte.

Landwirtschaftliche Beratung per Telefon

Der erste ist, aufzuklären und korrekte Information zu sichern. Das muss kultursensibel geschehen. Zum Beispiel machen wir Statements wie jenes von Südafrikas Präsidenten Cyril Ramaphosa auch Menschen in anderen Ländern zugänglich. Das digitale Zeitalter beschleunigt und erleichtert nicht nur die Verbreitung von Gerüchten enorm, sondern ermöglicht es auch, lebensrettende Informationen in den hintersten Winkel der Welt zu bringen.

Zweitens geht es um die Sicherung der Ernährung. Das Risiko von Hunger wird durch Corona und die dagegen unternommenen Maßnahmen empfindlich verschärft. Dramatisch ist es etwa für südafrikanische Kinder, wenn sie aufgrund der Schulschliessungen keine Schulmahlzeiten mehr bekommen und abends mit leerem Magen ins Bett müssen – eine Situation, welche auch für unsere Partnerorganisationen kaum auszuhalten ist. Kenia ist zurzeit doppelt belastet, weil schon die große Heuschreckenplage in vielen Regionen zu starker Ernährungsunsicherheit geführt hat. Bäuerinnen und Bauern werden nun per Telefon oder mit Einzelbesuchen beraten; das ist überlebenswichtig, weil jetzt die Regenzeit in Kenia beginnt und die Felder vorbereitet und bestellt werden müssen.

Der dritte Schwerpunkt ist der Schutz der Menschenrechte. So befürchten Menschenrechtsorganisationen auf den Philippinen eine noch stärkere Einschränkung ihrer Arbeit, seit Präsident Duterte sich am 24. März vom Kongress Sondervollmachten verleihen ließ. Auch kann man Menschenrechtsaktivisten, die sonst ihren Aufenthaltsort zum eigenen Schutz ständig gewechselt haben, nun wegen der Ausgangsperren einfach lokalisieren und festnehmen. Einige unserer Partnerorganisationen in Südafrika und Kolumbien leisten deshalb per Telefon für solche Menschen juristische Beratung.

"Mutter Erde eine Pause gönnen"

Überall auf der Welt kommen in Krisenzeiten unterschwellige Gefühle und Aversionen gegen andere Volksgruppen oder Nationen an die Oberfläche. In unseren Partnerländern aber blicken viele Menschen auf eine Geschichte der Gewalt zurück, sei es auf Kriege oder Kolonialisierung. Dass aufgrund dieses Erbes und der wirtschaftlichen Ausbeutung das Corona-Virus als Instrument der Neokolonialisierung gedeutet wird, ist nachvollziehbar.

Andererseits leben viele Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens seit längerem mit Epidemien – Covid-19 ist nur eine unter vielen. Stärker als darunter leiden die Menschen unter ihrer prekären wirtschaftlichen Situation oder unter Hunger. Dadurch relativiert sich der Schrecken des Virus für sie. Unsere Maya-Partnerorganisationen in Guatemala ziehen sogar den Schluss: "Wir rufen die ganze Menschheit dazu auf, die Lebensweise zu ändern, die Natürlichkeit des Lebens im Alltag, eine gesunde Ernährung und die Überwindung der Konsumkultur anzustreben. Wir verpflichten uns alle, Mutter Erde eine Pause zu gönnen. Dies ist die positive Lehre, die uns Covid-19 hinterlassen kann."

evangelisch.de dankt welt-sichten für die Kooperation. Dort wurde der ursprüngliche Artikel am 15. April 2020 veröffentlicht. Der Text wurde von der Autorin für evangelisch.de auf den neuesten Stand gebracht.