Pippi Langstrumpf feiert dieser Tage ihren 75. Geburtstag: Der erste Band der berühmten Trilogie erschien 1945. Astrid Lindgren hatte die Geschichten für ihre kranke Tochter Karin erfunden. Und Karin Nyman, die Tochter, wurde an einem 21. Mai geboren. Also: Pippi-Jubiläum im Mai 2020 – Viel Glück und viel Segen! Aber Moment mal: im Namen Jesu? Was hat dieses knallbunte, verrückte, sommersprossige und rothaarige Mädchen mit dem um 30 n. Chr. gekreuzigten Wanderprediger aus Galiläa zu tun?
Wenn Sie "Pippi Langstrumpf" jetzt wieder zur Hand nehmen, lade ich Sie zu einem Experiment ein: Lesen Sie vorab eine beliebige Kinderbibel. Als ich meinen Kindern die Bibel vor Jahren vorlas, fingen sie bei Jesu Kreuzigung an zu weinen – was eigentlich naheliegend war: Abend für Abend hörten sie von Jesu Eintreten für die Schwachen, von seinen übermenschlichen Wunderkräften, seinem Charisma, seiner unwiderstehlichen Gleichnis-Rhetorik und seinem gewaltlosen Widerstand gegen allzu enge Regeln sowie gegen alles Feindliche und Böse. Keiner wusste, wie es zuging, wenn Wasser zu Wein wurde oder plötzlich Brot im Überfluss da war. Jesus konnte Dämonen austreiben, und selbst Wind und Wellen gehorchten ihm. Viele Anhänger folgten ihm auf Schritt und Tritt. Meine Söhne wurden zu seinen treuesten Jüngern. Plötzlich aber starb dieser unangefochten geliebte Jesus, um zu seinem Vater im Himmel zurückzukehren. An diesem Abend musste ich lange lesen, damit meine Kinder, von der Auferstehung getröstet, beruhigt einschlafen konnten.
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Zwei Wochen später war Pippi Langstrumpf die Gute-Nacht-Lektüre. "Früher hatte Pippi mal einen Papa gehabt, den sie schrecklich lieb hatte. Ja, sie hatte natürlich auch eine Mama gehabt, aber das war so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. […] Pippi war ganz sicher, dass er eines Tages zurückkommen würde. […] Meine Mama ist ein Engel und mein Papa ist ein Südseekönig:" (Bd. I, S. 9-11). Niemand war so stark wie Pippi. Außerdem hatte ihr Vater sie mit einem Koffer voller Goldstücke ausgestattet. Was für eine Macht! Pippi zeigte übermenschliche Wunderkräfte und hatte enormes Charisma. Abend für Abend trat sie ihren Gegnern, meistens Erwachsenen, erfolgreich entgegen. Dabei verzichtete sie stets auf Gewalt: Wenn jemand ein Pferd schlug, zerbrach sie die Peitsche. Sie war rhetorisch geschickter, schlagfertiger als die Erwachsenen. Und als der betrunken randalierende, wie von einem Dämon besessene Laban Angst und Schrecken verbreitete, brachte Pippi ihn auf den rechten Weg: "Seit diesem Tag war er nicht mehr der Alte. ‚Pippi soll leben!‘ riefen die Leute. […] ‚Nein wahrhaftig‘, sagte ein anderer. ‚Sie wird mit Tigern und Strolchen fertig.‘" (I, S. 222). Pippi war immer auf der Seite der Kinder und der Schwachen. Sie setzte die engen Regeln der Erwachsenen außer Kraft. Thomas und Annika folgten ihr auf Schritt und Tritt. Sie waren dabei, wenn plötzlich Bonbons im Überfluss da waren. Und sie wussten nicht, wie es zuging, dass immer wieder Limonade in ihrem Baumversteck nachwuchs. Mit Thomas und Annika wurden meine Söhne zu Pippis treuesten Jüngern.
Der zweite Band setzt dasselbe Muster fort. Bis eines Tages, wie aus dem Nichts, Vater Efraim auftaucht. "Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der so stark war wie Pippi, und das war ihr Papa. Da saßen sie nun und drückten mit allen Kräften, aber keinem gelang es, den anderen zu besiegen." (II, S. 248). "Pippi geht an Bord": Plötzlich sollte diese unangefochten geliebte Pippi für immer zu ihrem Vater in die Südsee zurückzukehren? Nicht nur Tommy und Annika, auch meine Söhne weinten sich die Augen aus. An diesem Abend musste ich lange lesen, damit meine Kinder beruhigt einschlafen konnten: Bis Pippi sich in letzter Sekunde entscheidet, zu bleiben – und vorschlägt: "‚Wir könnten auch runter zum Fluss gehen und lernen, auf dem Wasser zu laufen.‘ ‚Man kann nicht auf dem Wasser laufen‘, sagte Tommy. ‚Doch, das ist bestimmt nicht unmöglich‘, sagte Pippi." (II, S. 280).
Die Parallelen nehmen kein Ende. Was ist, so wird man fragen, von dieser Entdeckung zu halten? Jesus-Bezüge sind in der Kinder- und Jugendliteratur nicht selten. Mit dem Heldenprinzip wird in der Fantasy regelmäßig ein implizites Jesus-Muster bedient: Ein Held bricht auf, eine Welt vom Bösen zu erlösen und sich gar zu opfern. Wenn es um Motive wie Schuld oder Befreiung geht, ist indirekt die Kernbotschaft des Christlichen im Spiel. Allerdings haben diese christlichen Deutungen immer etwas Vereinnahmendes. Davon zu unterscheiden sind explizit theologische Bücher, deren Autor*innen Jesus-Analogien gezielt aufbauen und gestalten, etwa C.S. Lewis mit dem Fantasy-Klassiker "Der König von Narnia".
Christliche Absichten abgelehnt
Pippi Langstrumpf passt in keine der beiden Kategorien. Religionspädagogisch handelt es sich um einen glücklichen Sonderfall. Denn obwohl zweifellos engste Bezüge bestehen, hat Astrid Lindgren diese nicht gewollt. Wie biografische Zeugnisse belegen, ist die auf einem gepachteten Pfarrhof großgewordene Schriftstellerin vielmehr so selbstverständlich im Geist des Christentums aufgewachsen, dass ihr biblisch-theologische Traditionen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Christliche Absichten und eine Nähe zur Kirche aber hat sie zeitlebens vehement abgelehnt. Darin mag der Grund liegen, dass das Christliche im Werk der Autorin immer gespürt, in der Forschung aber erst zögerlich aufgearbeitet wurde.
Astrid Lindgren zeichnet Tommy und Annika als zwei gelangweilte Menschen, die adrett als Erwachsene zurechtgemacht sind. "Wir wollen Freiheit! Wir wollen Kindheit!", lautet ihr stummer Schrei. Seit 75 Jahren ist Pippi Langstrumpf die erlösende Antwort – seit 75 Jahren und in Ewigkeit. Denn als die Kinder schließlich zu Weihnachten (!) aus dem himmlisch-paradiesischen Taka-Tuka-Land in die Villa Kunterbunt zurückkehren, hat Pippi ein endgültiges Mittel gegen das Erwachsenwerden: "Dort war Pippi. Sie würde immer da sein. Es war wunderbar, daran zu denken. Die Jahre würden vergehen, aber Pippi und Tommy und Annika würden nicht groß werden. Natürlich nur, wenn die Kraft aus den Krummeluspillen nicht herausgegangen war! […] Ja, das war ein wunderbar tröstlicher Gedanke – Pippi würde für immer in der Villa Kunterbunt bleiben." (III, S. 394f.)