Die scheinbare Routine wird durchbrochen, als die fast erwachsene Tochter abhaut. Zwei Polizisten hetzen hinter ihr her, sie überquert eine Autobahn, einer der Männer wird von einem LKW überfahren; Ende des Prologs, Vorspann, durchatmen.
Anschließend beginnt der Film noch mal neu: Opa Karl (Herbert Knaup) singt seine kranke Enkelin in den Schlaf. Kurz drauf wird das Mädchen von seinem nicht minder liebevollen Vater Thomas (Hanno Koffler) abgeholt; je sympathischer der Antiheld, desto größer die Fallhöhe. Am nächsten Tag erfährt Karl, dass ein junger Mann aus dem Ort auf der Autobahn ums Leben gekommen ist, womöglich Selbstmord, und weil es einen Verdacht auf Mitgliedschaft in einer rechtsradikalen Vereinigung gab, hat das LKA sein Elternhaus durchsucht und sämtliche persönlichen Sachen konfisziert. Der Tote, Manuel, war mal Thomas’ bester Freund, aber der sagt, er habe schon lange nichts mehr mit ihm zu tun gehabt. Als Karl nachschauen soll, ob er ein Foto von Manuel findet, weil die Polizei alle Alben mitgenommen hat, entdeckt er in den Sachen seines Sohnes einen versteckten Umschlag mit Aufnahmen, die Manuel und Thomas in jungen Jahren beim Hitlergruß zeigen. Eine jugendliche Verirrung, beruhigt Karl seine Frau (Johanna Gastorf); lange her, sagt auch Thomas. Trotzdem geht die Sache dem Vater nicht mehr aus dem Kopf. Fortan sieht er seinen Sohn mit anderen Augen, und prompt mehren sich die Hinweise, dass Thomas hinter seiner bürgerlichen Fassade als Familienvater ein zweites Leben führt; dabei kann Karl noch nicht mal erahnen, wie tief der Abgrund ist, der sich schließlich vor ihm auftun wird.
"Toter Winkel" (TV-Premiere war 2017) ist ein ziemlich cleverer Titel für diesen Film: Natürlich glaubt Karl, seinen Sohn gut zu kennen; die gemeinsamen Szenen zeugen von großer gegenseitiger Zuneigung. Und trotzdem ist es Thomas gelungen, einen Teil seiner Persönlichkeit sein halbes Leben lang vor den Eltern und seiner Frau (Theresa Scholze) zu verbergen. Das Drehbuch ist von Ben Braeunlich, der zuvor die Vorlagen für einige bemerkenswerte Filme geliefert hatte (zuletzt "Matula", davor die beiden "Tatort"-Episoden "Echolot" und "Schwerelos"). Regie führte Stephan Lacant; sein Debüt "Freier Fall" (2013) handelte von einem verheirateten Polizisten (ebenfalls Koffler), der sich in einen Kollegen verliebt. Dank des vielschichtigen Spiels von Knaup und Koffler gelingt es Lacant, lange offen zu lassen, was seine Hauptfiguren zu verbergen haben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ganz ähnlich verfahren Buch und Regie mit der Handlung. Geschickt hält der Film in der Schwebe, was der Tod von Manuel mit der Familie aus dem Kosovo zu tun hat. Der Verzicht auf weitere Erklärungen ist durchaus mutig, aber nur so ist gewährleistet, dass es dem Zuschauer ähnlich ergeht wie Karl, der schließlich aus allen Wolken fällt. Aus dem gleichen Grund läuft auch der Parallelestrang nebenher: Als habe sie überhaupt nichts mit der Geschichte zu tun, macht der Film immer wieder Stippvisiten bei Anyá (Emma Drogunova), dem geflüchteten Mädchen, das von einem Mitschüler versteckt wird und schließlich erfährt, dass das Bleiberecht der Familie überhaupt nicht aufgehoben worden ist. Erst kurz vor Schluss, als Karl die vermeintliche Abschiebung von Anyás Familie nachvollzieht, offenbart sich die ganze schreckliche Tragweite der Ereignisse in jener verhängnisvollen Nacht; und ausgerechnet Karl, die Identifikationsfigur des Films, droht ebenfalls von dem mörderischen Abgrund verschlungen zu werden, weil Blut eben doch dicker ist als Wasser.
Viele Szenen sind offensichtlich mit einer Handkamera gedreht worden (Bildgestaltung: Michael Kotschi); gerade bei der Abschiebung zu Beginn werden die Kamera und somit auch das Publikum auf diese Weise vom Beobachter zum Mitwirkenden. Diese Nähe gilt auch im übertragenen Sinn: Der Film spielt in einer Kleinstadt, jeder kennt jeden. Produziert wurde "Toter Winkel" von Hans W. Geißendörfer, dem Vater der "Lindenstraße", der mit diesem Film viele Denkanstöße vermittelt. Vordergründig geht es um ein Vater/Sohn-Verhältnis, aber über allem steht die Frage, wie es kommt, dass Kinder aus unauffälligen Elternhäusern in den Extremismus abdriften; klugerweise versuchen Braeunlich und Lacant gar nicht erst, so zu tun, als gäbe es darauf eine einfache Antwort.