Jan N. Lorenzen zeigt mit seiner Dokumentation, dass diese Sorge verfrüht ist: Wer die Schrecken vor 75 oder mehr Jahren als Kind erlebt hat, dem haben sich diese Bilder nachdrücklich ins Gedächtnis gebrannt; deshalb können die betagten Männer und Frauen in "Kinder des Krieges" ihre Erinnerungen mit einer Lebendigkeit schildern, als hätten sich die Ereignisse erst gestern zugetragen.
Der Autor, der unter anderem vor einigen Jahren gemeinsam mit Sandra Maischberger einen Film über den Nato-Doppelbeschluss und die Geschichte der Friedensbewegung gemacht hat ("Pershing statt Petting"), hat die neunzig Minuten denkbar sparsam gestaltet: Menschen sitzen in einem Sessel und berichten. Sie stammen aus allen Teilen der Republik, aus Großstädten und vom Lande; sie sind die Söhne und Töchter von Tätern wie von Opfern. Einige waren in den frühen Vierzigerjahren Teenager, sie sind quasi ihr Leben lang mit nationalsozialistischem Gedankengut indoktriniert worden; andere haben als Kinder, oft wie durch ein Wunder, ein Konzentrationslager überlebt. Lorenzen illustriert ihre Schilderungen zwar durch passende zeitgenössische Aufnahmen, aber vor allem zeigt er die Menschen. Während Rückblicke dieser Art sonst zumeist sehr emotional sind, bleiben die Männer und Frauen weitgehend gefasst.
Anders als in vielen vergleichbaren Dokumentationen hat sich Lorenzen nicht auf zwei oder drei Zeitzeugen beschränkt. Die kaleidoskopartig miteinander kombinierten Erzählungen seiner vielen Gesprächspartner wirken zunächst zusammenhanglos, aber nach und nach ergeben die schlaglichtartigen und nur wenige Minuten dauernden Schilderungen der Männer und Frauen ein Gesamtbild. Die einen waren im letzten Kriegsjahr erst sechs, andere bereits 18, aber alle haben traumatische Erfahrungen gemacht. Ein alter Herr wird bis heute die Bilder nicht mehr los, wie er als jugendlicher Scharfschütze während des "Volkssturms" einen feindlichen Soldaten erschossen hat. Die gesamte Gruppe wurde kurzerhand der Waffen-SS zugeteilt, Widerspruch war nicht möglich; in sowjetischer Gefangenschaft wurde dies dem Jungen zum Verhängnis. Eine Frau, die als Teenager in ein Konzentrationslager kam, kann heute noch nicht glauben, dass sie nach der Befreiung zufällig ihre verschollene Schwester wiedergefunden hat.
Wo es möglich war, hat Lorenzen die Erzählungen mit authentischen Filmausschnitten aus Wochenschauen oder aus privaten Aufnahmen unterlegt; anderswo müssen Bilder genügen, die zumindest zu den Berichten passen. Die Offenheit, mit der die Menschen sprechen, zeugt vom Vertrauensverhältnis zwischen dem Filmemacher und seinen Zeitzeugen. Einige ältere Damen geleitet er galant am Arm zum Sessel. Zwischendurch meldet er sich mit kurzen Nachfragen zu Wort, aber ansonsten gehört der Film voll und ganz den Männern und Frauen. "Kinder des Krieges" ist ein Multimediaprojekt des Geschichtlichen Arbeitskreises der ARD und wird ergänzt durch fünf Radiogeschichten sowie vertiefende Filmdokumente in der ARD-Mediathek.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Um 23.15 Uhr folgt "Mit Gott gegen Hitler". Die Dokumentation über den christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat jedoch ein entscheidendes Manko: Mit 45 Minuten ist sie viel zu kurz, um dem komplexen Thema gerecht zu werden. Sehenswert ist der Film dennoch, weil Ingo Helm mit seinem Dokudrama zwei großen Männern die Ehre erweist: auf protestantischer Seite Dietrich Bonhoeffer, kurz vor Kriegsende auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers zu Tode gefoltert, und auf katholischer Seite der Dominikanermönch Laurentius Siemer, den Älteren vielleicht noch als erster TV-Pfarrer im jungen deutschen Nachkriegsfernsehen in Erinnerung. Helm belässt es allerdings nicht bei einer Würdigung dieser beiden Persönlichkeiten. Sein Film geht auch der nicht unberechtigten Frage nach, ob die Kirchen Hitler hätten verhindern können. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, findet in dieser Hinsicht sehr kritische Worte ("Teil unserer Schuldgeschichte"). Den spannendsten Aspekt des Themas - warum war der Widerstand bei den Katholiken deutlich größer war als bei den Protestanten? - kann Helm leider nur streifen.
Stattdessen bedient er sich eines Tricks, zu dem Regisseure gerne greifen, wenn sie einen vermeintlich trockenen Stoff aufpeppen wollen: Der Autor ergänzt das zeitgenössische Material und die Interviews mit Theologen und Historikern um Spielszenen. Dass er Bonhoeffer und dessen Forderung, "dem Rad in die Speichen zu fallen", mutmaßlich für faszinierender hielt als Siemer, zeigt nicht zuletzt die Besetzung: Den Lutheraner verkörpert Matthias Koeberlin. Puristen werden einwenden, dass der Autor und Regisseur gut und gern auf die inszenierten Anteile hätte verzichten und sich stattdessen intensiver mit dem historischen Hintergrund beschäftigen können. Andererseits sorgt er so natürlich dafür, dass etwa eine Radioansprache Bonhoeffers über den "Führer als Verführer" ihre Wirkung nicht verfehlt. Nicht minder spannend ist ein theologischer Disput über die Frage, ob man für einen Tyrannenmord das Fünfte Gebot brechen darf. Abgesehen von kleinen Irritationen am Rande, wenn beispielsweise eine Theologin über "den Dietrich" spricht, als sei mit ihm aufgewachsen, ist "Mit Gott gegen Hitler" gerade auch dank der kenntnisreichen klugen Aussagen Bedford-Strohms ein wichtiger Beitrag. Noch besser wäre es gewesen, wenn Helm Geld und Sendezeit für einen Zweiteiler bekommen hätte.