Teil eins, "Wegwerfmädchen", beginnt mit dem Mord an einer jungen Frau. Selbst wenn Regisseurin Franziska Meletzky und ihre Kamerafrau Eeva Fleig die Grausamkeit der Ereignisse optisch entschärfen: Die Bilder verfehlen ihre Wirkung nicht. Wenn später der Gerichtsmediziner beschreibt, was der jungen Frau sonst noch alles widerfahren ist, wird nicht nur der hartgesottenen Kommissarin ganz anders.
Seinen Titel verdankt der erste Teil einem tatsächlichen Ereignis und der entsprechenden Schlagzeile: Wie das Filmopfer war eine Frau im Müll entsorgt worden. Aber in Dähnerts Drehbuch gibt es eine Überlebende, und dank deren Schilderungen kann sich Lindholm schließlich einen Tathergang zusammenreimen, der ungeheuerlich erscheint: Mit Hilfe des stadtbekannten Zuhälters Koschnik (Robert Gallinowski) haben die Honoratioren von Hannover einen heiteren Abend gefeiert. Zum Dessert gab’s zwangsprostituierte Mädchen aus Weißrussland, die anschließend zum Schweigen gebracht werden sollten. Als Dähnert seine erste Drehbuchfassung fertig hatte, wurde die Budapester Sexparty der Versicherungsgruppe Ergo bekannt; nun tragen auch die Mädchen im Film verschiedenfarbige Armbänder. Und man muss sich nicht mal in der Finanzwelt auskennen, um zu ahnen, welcher prominente Finanzunternehmer aus Hannover Dähnert als Vorbild für den charismatischen Hajo Kaiser gedient haben mag. Bernhard Schir hat spürbar Spaß an der Figur des selbstgefälligen Emporkömmlings, der zunächst nur deshalb eine Rolle spielt, weil Jan Liebermann (Benjamin Sadler) wieder für eine heiße Story recherchiert und deshalb keine Zeit für seine Freundin Charlotte hat. Mit großem Geschick lässt Dähnert die beiden parallel erzählten Handlungsstränge beinahe unmerklich ineinander über gehen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Als Zeugin der Anklage soll jene junge Frau fungieren, die ihre Entsorgung wie durch ein Wunder überlebt hat. Für Emilia Schüle ist dies nach "Isenhart" (ProSieben) und der Titelrolle in "Die letzte Spur – Alexandra, 17 Jahre" (Sat.1) ein weiterer Schritt, um "Freche Mädchen" hinter sich zu lassen, zumal die junge Schauspielerin als Larissa aus Minsk eine ganz neue Qualität offenbaren darf: Ihre Eltern sind Russlanddeutsche, sie spricht fließend russisch. Davon abgesehen nutzt sie das Spektrum der Rolle weidlich aus und macht ihre Sache neben Maria Furtwängler ausgezeichnet. Trotzdem steht außer Frage, wer der Star der beiden Filme ist, zumal Lindholm gegen mächtige Gegner antritt; selbst der zuständige Staatsanwalt (André Hennicke) hat Dreck am Stecken. Gerade die spannenden Szenen verdanken ihr hohes Maß an Intensität allerdings nicht nur der Hauptdarstellerin, sondern auch einem bestechenden Zusammenspiel von Bildgestaltung und Tonmischung (Ben Krüger).
"Wegwerfmädchen" ist zwar in sich abgeschlossen und der Mörder am Ende gefasst, aber die Geschichte geht gleich im Anschluss mit "Das goldene Band" (21.45 Uhr) weiter. Anstelle eines "Was bisher geschah" stellt Dähnert Charlotte Lindholm eine neue Kollegin zur Seite, die in den Fall eingeweiht werden muss. Das geschieht allerdings in angemessener Knappheit, denn die Einzelkämpferin vom LKA ist zunächst alles andere als begeistert über die Verstärkung. Prompt gab Dähnert der Dame den Namen Prinz: Lindholm lässt keine Zweifel dran, wer das Sagen hat. Aber nicht nur in narrativer Hinsicht ist die Kommissarin eine Verstärkung: Alessija Lause, auch als Stuntfrau sehr gefragt, bildet einen interessanten Kontrast zu Furtwängler, zumal Prinz mindestens so cool ist wie die diesmal ungewohnt emotionale Lindholm. Allerdings muss die Ermittlerin auch hilflos mit ansehen, wie sich Privatleben und Beruf vermischen: Erst stellt sich raus, dass ihr Geliebter, Jan Liebermann (Benjamin Sadler), viel mehr über den Fall der verschwundenen jungen Frauen aus Weißrussland weiß, als er zugeben will; und dann geben ihr die mächtigen Gegenspieler zu verstehen, dass es der kleine David ausbaden muss, wenn seine Mutter nicht lockerlässt.
Da schon in Teil eins klar war, wer hinter dem Verbrechen steckt, bezieht der zweite Teil seine Spannung aus der Frage, ob und wie es Lindholm gelingt, der Übermacht zu trotzen: Die Gegenseite hat ihre Augen und Ohren überall. Das verleiht dem erneut von Franziska Meletzky inszenierten Film eine Atmosphäre wie in einer Verschwörungsgeschichte: Die Kommissarin kann niemandem trauen, selbst ihr Chef (Torsten Michaelis) scheint auf der Lohnliste des Bösen zu stehen. Großartiger Kontrast zur dünnhäutigen Heldin ist Bernhard Schir als Großinvestor Hajo Kaiser. Spielte er im ersten Teil nur eine Nebenrolle, so rückt er nun mehr und mehr ins Zentrum. Schir verkörpert den charismatischen Unternehmer mit großer Hingabe, ohne dabei zu übertreiben oder die Figur zu denunzieren. Kaiser, als Rattenfänger von Hannover der heimliche Herrscher der niedersächsischen Landeshauptstadt, steckt einfach voller Energie, ist sich aber auch nicht zu schade, für die Töchter den Clown zu machen; eine tolle Rolle.
Am Ende hilft ausgerechnet Liebermann der Kommissarin aus der Patsche, weil beide zufällig das gleiche weißrussische Reiseziel haben, und die Überführung des von Gallinowski ohnehin nicht gerade differenziert verkörperten Rockerchefs als Drahtzieher der Zwangsprostitution ist ein bisschen dick aufgetragen. Davon abgesehen: unbedingt sehenswert.