TV-Tipp: "Die Getriebenen"

Altmodischer Fernsehapparat steht auf Tisch.
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Die Getriebenen"
15.4., ARD, 20.15 Uhr
Natürlich ist die Konstellation nicht glücklich: Ein gutes halbes Jahr nach dem ZDF zeigt nun auch die ARD einen Film über den Sommer 2015, als sich Angela Merkel entschloss, den mehreren tausend in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge Einlass ins Land zu gewähren. Anders als der Film "Stunden der Entscheidung" von Christian Twente, der sich auf einen Tag konzentriert, erzählen Florian Oeller und Stephan Wagner jedoch die ganze Geschichte. Deshalb darf diesmal auch Horst Seehofer mitwirken, der damals nur als Phantom durch die Handlung geisterte, weil er für die Bundeskanzlerin nicht zu erreichen war. Weil sich Oellers Drehbuch, das auf dem gleichnamigen Sachbuch von Robin Alexander basiert, selbstverständlich an die Tatsachen hält, kommt es zwangsläufig zu Überschneidungen zwischen den beiden Produktionen.

Trotzdem gibt es zwei entscheidende Unterschiede. Der erste ist konzeptioneller Natur: Die Handlung von Wagners Film erstreckt sich über einen Zeitraum von zwei Monaten und ist daher deutlich komplexer. Das Drehbuch bettet die Vorgänge in einen ungleich größeren Kontext und unterstreicht auf diese Weise den Status der Kanzlerin als Krisenmanagerin: Kaum ist der "Grexit" abgewendet, stehen die Flüchtlinge vor der Tür, weshalb die für eine TV-Produktion ungewöhnliche Länge von 120 Minuten absolut angebracht ist. Wegen der ständigen Schauplatzwechsel wirkt "Die Getriebenen" zudem sehr temporeich und dynamisch, zumal die Szenen oft nur einige Sekunden dauern. Der zweite betrifft die Regisseure: Twente ist eher Dokumentarist; Wagner hingegen, der den Film auch produziert hat, ist als Spielfilmregisseur für "Dienstreise – Was für eine Nacht" (2004), "Der Fall Jakob von Metzler" (2013) und "Mord in Eberswalde" (2014) jeweils mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Während die Spannung bei "Stunden der Entscheidung" vor allem aus der Rekonstruktion und den Einblicken ins stellenweise erschreckend machtlose Zentrum der Macht resultierte, ist "Die Getriebenen" auch filmisch ein Erlebnis.

Wie immer in solchen Fällen liegt ein spezieller Reiz in der Frage, wie die prominenten Figuren besetzt worden sind. Für Regisseure ist das eine besondere Herausforderung, schließlich sind die Protagonisten allseits bekannt. Wagner hat einige überraschende Lösungen gefunden, wobei es ihm offenkundig nicht immer in erster Linie um physiognomische Ähnlichkeiten ging; Rüdiger Vogler zum Beispiel ist als Wolfgang Schäuble im Grunde nur am Rollstuhl und dem leichten badischen Dialekt zu erkennen. Ein Knüller ist dagegen Sepp Bierbichler als müder Horst Seehofer. Matthias Kupfer wiederum trifft dessen Intimfeind derart perfekt, als habe Wagner den echten Markus Söder engagiert. Komplett in seiner Rolle geht auch Tristan Seith auf, der dank des Maskenbilds derart vollständig hinter Peter Altmaier verschwindet, dass nichts mehr an die rheinische Frohnatur erinnert, die der Schauspieler unter anderem als Kriminaltechniker in der ZDF-Krimireihe "Helen Dorn" verkörpert. In weiteren wichtigen Rollen und ähnlich treffend besetzt wirken unter anderem Wolfgang Pregler als Thomas de Maizière, Walter Sittler als Frank Walter Steinmeier und Timo Dierkes als Sigmar Gabriel mit.

Trotzdem steht und fällt ein derartiger Film natürlich mit der zentralen Figur, weshalb es Wagners wichtigste Entscheidung war, die Hauptrolle Imogen Kogge anzuvertrauen. Ähnlich wie ihre allerdings weit weniger bekannte Kollegin Heike Reichenwallner in Twentes Film versucht die vor allem als frühere Potsdamer "Polizeiruf"-Kommissarin bekannt gewordene Schauspielerin glücklicherweise nicht, Angela Merkel zu imitieren. Stattdessen hat sie die Rolle verinnerlicht und nun auf eigene Weise interpretiert.

Anders als Twente und sein Autorenteam haben Wagner und Oeller, Autor unter anderem der Polit-Thriller-Trilogie "Tödliche Geheimnisse", auf Interviews mit den Zeitzeugen verzichtet; in "Stunden der Entscheidung" hatte das unter anderem zur Folge, dass die Diskrepanz zwischen Rolle und Darsteller teilweise allzu offensichtlich war. "Die Getriebenen" nutzt zwar immer wieder Ausschnitte aus der "Tagesschau", aber ansonsten wirkt der Film wie aus einem Guss, weil Wagner und sein Kameramann Thomas Benesch die Übergänge zwischen Spielszenen und dokumentarischem Material bis zur Unkenntlichkeit kaschiert haben. Es gibt auch keine Personalisierung der Flüchtlingsperspektive. Stattdessen orientiert sich das Drehbuch an der klassischen Konstellation von Gut und Böse, wobei die Schurkenrolle selbstredend dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán (Radu Banzaru) zukommt, der die EU vor sich hertreibt. Die Kanzlerin wiederum wird nicht nur wegen ihres gelegentlichen Humors und der Stippvisiten in ihr Privatleben (Uwe Preuss spielt den geduldigen Gatten) zur Sympathieträgerin: Wie in einem Shakespeare-Drama ist Merkel von lauter Intriganten umgeben, wobei Seehofer im Grunde selbst eine tragische Figur ist. Clever nutzt Wagner das Stilmittel des geteilten Bildschirms, um auch optisch zu verdeutlichen, dass die Kanzlerin von Gegnern umgeben ist. Aufschlussreich ist zudem ein Randaspekt: Wagner zeigt Merkel nie an ihrem Schreibtisch, weil sie quasi rund um die Uhr unterwegs ist. Es mag zwar noch ein Zentrum der Macht geben, aber die Mächtigen sind dort nur selten anzutreffen. Vor dem permanenten Druck gibt es dennoch kein Entkommen; auch nicht im Urlaub. "Die Getriebenen" ist öffentlich-rechtliches Fernsehen von seiner besten Seite.