Der 19-jährige Schütze Richard Freiherr von Weizsäcker schlief Ende August 1939 auf dem Truppenübungsplatz Groß Born in Pommern unweit der polnischen Grenze auf seinem Feldbett. Mitten in der Nacht weckte die Wachmannschaft ihn und seine Kameraden. Die Züge standen bereit und brachten die Männer in den polnischen Korridor. Am 1. September griffen sie an. Am darauffolgenden Tag starb sein älterer Bruder Heinrich hundert Meter von Richard entfernt. Er beerdigte ihn selbst.
Richard Freiherr von Weizsäcker hat den Zweiten Weltkrieg als junger Mann erlebt. Dieser Krieg beschäftigte ihn ein Leben lang: Wie hatte es so weit kommen können, dass ein ganzes Volk einer verbrecherischen Führung hinterherlief? Wie hatte es soweit kommen können, dass Millionen Deutsche glaubten, sie kämpften und litten für die gute Sache des eigenen Landes?
Richard von Weizsäcker stammt aus einer protestantischen, schwäbischen Gelehrten- und Staatsdienerfamilie. Sein Großvater war 1916 als württembergischer Ministerpräsident von König Wilhelm II. von Württemberg in den erblichen Adel erhoben worden. Weizsäckers Eltern lebten eine Zeit lang in einem Flügel des Stuttgarter Neuen Schlosses, wo er selbst am 15. April 1920 geboren wurde.
Die Familie zog mit den vier Kindern einige Male innerhalb Europas um, denn der Vater Ernst von Weizsäcker war Diplomat. Schließlich leitete der Vater in Berlin die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes und stieg 1938 unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop zum Staatssekretär auf. Nach Kriegsende wurde er in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt.
"Christen dürfen die Politiker nicht in den Niederungen einer noch nicht erlösten Welt sich selbst überlassen."
Richard von Weizsäcker, der 1945 begonnen hatte Rechtswissenschaft zu studieren, war 1947 bis 1949 Hilfsverteidiger seines Vaters, der zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Der Sohn bezeichnete das Urteil später als falsch: "Für meinen Vater stellte sich die eine zentrale moralische Frage: Im Amt bleiben oder nicht? Wofür musste und durfte er jeden Einsatz auf sich nehmen? Worauf gab es eine Perspektive des eigenen Einflusses, worauf nicht?", erklärte Richard von Weizsäcker im Jahr 2009 in einem Interview mit dem "Spiegel". Auf Einzelschicksale soll Ernst von Weizsäcker, der zuletzt Vertreter Deutschlands im Vatikan war, so gut er konnte Einfluss genommen haben.
Die Familie von Weizsäcker war leistungsorientiert und immer eng mit dem deutschen Staat verbunden. In diese Fußstapfen trat auch Richard von Weizsäcker. Gleichwohl hatte er in seiner Laufbahn auch Niederlagen hinzunehmen: in der Partei, die Abgeordnetenhauswahl in Berlin, die Bundespräsidentenwahl 1974.
Richard von Weizsäcker machte zunächst Karriere in der Wirtschaft, trat 1954 in die CDU ein und engagierte sich in der evangelischen Kirche. Mehr als 30 Jahre, von 1962 bis 1989, gehörte Richard von Weizsäcker dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages an. Von 1965 bis 1969 sowie 1981 war er Kirchentagspräsident. Zudem war er 17 Jahre lang Mitglied der Synode (1967 – 84) und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie des Zentral- und Exekutivausschusses des Weltkirchenrates.
Weizsäcker hielt nichts von Dogmen und verbindlichen Formen: Jeder Christ solle seinen Glauben so leben, wie er es für richtig halte. Die Unterschiede innerhalb der eigenen Religion müsse man aushalten können, fand Weizsäcker. Er setzte sich für die Ökumene ein – zudem für die Zusammenarbeit der evangelischen Kirchen im geteilten Deutschland, in BRD und DDR.
Sohn Fritz verglich ihn mit einem Fahrrad: "Wenn es nicht fährt, fällt es um."
Weizsäcker war nicht der Typ des strahlenden Gewinners, der sich auf einem Podest eine Medaille umhängen ließ, gleichwohl erhielt er in seinem Leben zahlreiche Auszeichnungen. Statt Eitelkeit trieb ihn Disziplin an – auch in sportlicher Hinsicht: Insgesamt zehn Mal rannte, schwamm und sprang er bis ins hohe Alter für das Deutsche Sportabzeichen. Richard von Weizsäcker war unermüdlich. Sein Sohn Fritz verglich ihn mal mit einem Fahrrad: "Wenn es nicht fährt, fällt es um."
Weizsäcker war ein Arbeiter des Geistes, der unermüdlich versuchte, die Weichen für die Zukunft neu zu stellen. Das Vergangene war ihm Lehre für die Zukunft und dementsprechend war das Kriegsende am 8. Mai 1945 für ihn auch nicht die Stunde null. Als Vertreter der alten Elite fand er deutliche Worte, wo andere sich darum drückten. Ein Beispiel dafür ist seine wohl berühmteste und eindrücklichste Rede, die er 40 Jahre nach Kriegsende hielt: "Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen."
"Die Politik läuft dem Markt hinterher, der Markt läuft den menschlichen Bedürfnissen hinterher. Um welche menschlichen Bedürfnisse es geht, das ist eine Frage an uns, das ist unsere Frage."
Als Bundespräsident war Weizsäcker ein Mahner – dieses Amt war für ihn das Richtige, denn auch vorher schon hatte er sich um Parteibücher nicht geschert, sondern auf Argumente gehört. Wohl auch deswegen war er über die Parteigrenzen hinweg bei den Deutschen beliebt und wirkte authentisch. Das repräsentative Amt des Bundespräsidenten reizte er wie kein anderer aus: In den 1980er Jahren nutzte er beispielsweise am Kanzleramt vorbei seine Verbindungen und pflegte eigensinnig und eigenmächtig Kontakte zur DDR-Führung.
Es war dieser Eigensinn, durch den Richard von Weizsäcker seine natürliche Autorität erlangte. Neben seinen christlichen Überzeugungen half ihm dabei vor allem sein Sinn für politische Realitäten. Seine Engagements in Kirche und Politik liefen parallel, doch er verstand es, sie nicht zu vermischen. Er war der Auffassung, dass Kirche nicht Politik machen sollte. Doch jeder Christ, so Weizsäcker, habe den Auftrag, auszugleichen und auszusöhnen: "Christen dürfen die Politiker nicht in den Niederungen einer noch nicht erlösten Welt sich selbst überlassen."
Seine christlichen Überzeugungen waren sein Antrieb
Seine christlichen Überzeugungen waren sein Antrieb und die moralische Grundlage seines Denkens. Sie halfen ihm, seine Fragen nach Schuld und Vergebung zu beantworten, und waren ein Kompass für sein politisches Handeln. Das zeigte sich einem großen Publikum drei Tage nach dem Fall der Mauer besonders deutlich. Bundespräsident Richard von Weizsäcker besuchte in der herbstlich kalten Vollmondnacht des 12. November 1989 einen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Sie war mehr als voll besetzt und um die Kirche standen noch mal 3.000 Menschen aus Ost und West. Der damalige EKD-
Ratsvorsitzende Martin Kruse leitete den Gottesdienst. Er bat Weizsäcker, etwas zu den Menschen zu sagen. Der Bundespräsident zitierte aus dem Gedächtnis die folgenden Paulus-Worte, die ihm auf einem Kirchentag ans Herz gewachsen waren: "So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Und lasset euch nicht wieder in ein knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, euch selbst zu lieben. Sondern durch die Liebe diene einer dem andern." (Galater 5)
Richard von Weizsäcker war zu diesem Zeitpunkt 69 Jahre alt. Er hatte während seiner gesamten politischen Laufbahn gehofft, Deutschland werde eines Tages wieder vereinigt. "Uns alle erfüllte der Gedanke, dass mit diesem Ereignis der Kalte Krieg zu Ende ging", sagte er später in einem Interview. Auf Frieden zu hoffen schien realistisch – ebenso wie der Gedanke, die Dominanz der Nationalstaaten könnte überwunden sein, Europa könnte zu einer gemeinsamen Stimme finden.
Unermüdlicher Mahner und Mitdenker
Im Vorfeld des Kirchentages 1966 hatte Weizsäcker den christlichen Beitrag zur Versöhnung einmal so formuliert: Die Christen sollten im Umgang miteinander ein Beispiel des Friedens geben können. Vor ihren Regierungen und ihren Völkern sollten sie gemeinsam Zeugnis von der Verantwortung ablegen, die jeder Teil für das Ganze habe. Im November 1989 erfüllte sich für Weizsäcker ein Traum: Das Gute und die Vernunft hatten durch viele kleine Schritte einen Sieg eingefahren.
Auch in den Folgejahren blieb Weizsäcker ein unermüdlicher Mahner und Mitdenker. Sowohl politisch
als auch in der Kirche. Im Jahr 1996 formulierte er vor dem Kirchenparlament der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Die Politik läuft dem Markt hinterher, der Markt läuft den menschlichen Bedürfnissen hinterher. Um welche menschlichen Bedürfnisse es geht, das ist eine Frage an uns, das ist unsere Frage." 2015 starb Richard von Weizsäcker 94-jährig in Berlin.