Als ein 16-Jähriger tot in einem See gefunden wird, erlebt die Polizistin (Christina Hecke) eine unfreiwillige Reise in die Vergangenheit: Marlon stammt aus dem gleichen Viertel, das sie vor vielen Jahren hinter sich gelassen hat; "Willkommen im Getto", begrüßt sie den Kollegen Freddy (Robin Sondermann). Spätestens beim Wiedersehen mit ihrer Mutter (Steffi Kühnert), das prompt alte Wunden aufreißt, schützt auch der Sarkasmus nicht mehr. Für einen Krimi ist das durchaus ungewöhnlich: Das Privatleben der Ermittler spielt meist keine Rolle, und wenn doch, dann wirkt es oftmals wie ein Fremdkörper, der von der eigentlichen Handlung ablenkt. Das ist in diesem Fall anders: Mohns Herkunft steht in direktem Zusammenhang mit der Handlung, denn natürlich kennt sie Cliquen wie jene, zu der Marlon gehörte. Dass auch ihr Cousin (Antonio Wannek), wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft und mit Fußfessel versehen, Mitglied dieser Gruppe ist, macht die Ermittlungen keineswegs leichter.
Regie führte Miguel Alexandre, der auch den Auftakt zur ZDF-Reihe "In Wahrheit" inszeniert hat, "Mord am Engelsgraben" (2017). Die Geschichte hat sich erneut Harald Göckeritz ausgedacht, mit dem Alexandre eine weit über zwanzig Jahre währende Zusammenarbeit verbindet; schon das Debüt des Regisseurs, "Nana" (1995), basierte auf einem Drehbuch von Göckeritz. Seither haben die beiden rund ein Dutzend Filme zusammen gemacht, darunter neben dem Udo-Jürgens-Zweiteiler "Der Mann mit dem Fagott" (2011) auch das Drama "Grüße aus Kaschmir" (2004), für das beide mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden. Hauptdarstellerin und ebenfalls Preisträgerin war Bernadette Heerwagen. Sie hatte zuvor schon die Nana gespielt, stand seither immer wieder für Alexandre vor der Kamera und wirkt in "Still ruht der See" als Mutter des Opfers mit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Entscheidender für die Qualität des Films sind jedoch die jüngeren Schauspieler. Gerade männliche Jugendliche neigen gern zu Übertreibungen, wenn sie junge Männer aus sozial prekären Verhältnissen verkörpern sollen; gern mit heftig mahlendem Kiefer, der mühsam unterdrückte Aggressivität andeuten soll. Die Darstellerinnen sind daher in der Regel interessanter; meist dürfen sie auch differenziertere Rollen spielen. Das gilt in diesem Fall vor allem für Devrim Lingnau, die einen starken Eindruck hinterlässt, zumal die von ihr verkörperte Nesrin der Polizei als einzige aus der Clique nicht mit unverhohlener Feindseligkeit begegnet. In Mordverdacht gerät der von seinen Kumpanen "Number Six" genannte Florian (Rafael Gareisen), denn der hat das Mordopfer im Auftrag von Anführer Sharif (Karil Günes) verprügelt; Marlon hatte den Fehler begangen, sich an die Freundin des Chefs ranzumachen. Eine Schlüsselrolle spielt auch Matti Schmidt-Schaller als Marlons bester Freund Yannick. Er ist der Außenseiter, den solche Gruppen brauchen, damit die anderen ein gemeinsames Opfer haben. Der jüngere Bruder von Petra Schmidt-Schaller hat dank seiner weichen Gesichtszüge mittlerweile derart viel Erfahrung mit solchen Rollen, dass er vermutlich ebenfalls gern mal einen Halbstarken spielen würde; auch Yannick, der sich liebevoll um seine kleine Schwester kümmert, will kein "Weichei" mehr sein.
Angesichts des vielen Testosterons in den Auftritten der Jugendlichen sind die Szenen mit Rudolf Kowalski eine echte Wohltat. Der ehemalige Polizist Zerner hat sich schon im zweiten Film ("Jette ist tot") zu einer Art väterlichem Freund der Kommissarin entwickelt. Zerner kümmert sich um straffällig gewordene Jugendliche; zu seinen Klienten gehörte auch Florian. Fast noch schöner als die gemeinsamen Ermittlungen sind die Momente am Rande, wenn sich Mohn bei Zerner revanchiert und ihm bei der Gartenarbeit hilft. Ohnehin ist „Still ruht der See“ vor allem ein Film für Schauspieler. Das gilt auch für Mohns Team, selbst wenn Jeanne Goursaud, die als Nachwuchskollegin gerade in der letzten Episode starke Akzente gesetzt hat, diesmal etwas zu kurz kommt; dafür hat Alexandre in den Szenen mit Mohn und ihrem jüngeren Partner einen angenehm entspannten Tonfall gefunden.
Das gilt ohnehin für den gesamten Film. Der Regisseur steht nicht für Fernsehereignisse wie "Die Frau vom Checkpoint Charlie" (2007) oder "Starfighter" (2015), er hat zuletzt mit vielen Beiträgen auch die ZDF-Reihe "Der Kommissar und das Meer" zu neuer Blüte geführt. Seit einigen Jahren bedient er in seinen Filmen stets auch die Kamera, unter anderem, um den Schauspielern auf diese Weise näher sein zu können. Einige sichtbar sorgsam komponierte Einstellungen belegen zudem, dass Alexandre auch ein visuell denkender Regisseur ist. Trotzdem werden Krimifans womöglich einen gewissen Nervenkitzel vermissen. Der Film lebt vor allem von den vielen Ebenen der Geschichte, in der es nicht nur um eine vermeintliche Erpressung und tatsächliche Homosexualität geht, sondern auch um eine pubertäre Wette sowie die Frage, wann aus Sex Vergewaltigung wird. Kein Wunder, dass "Still ruht der See" vor allem über die Figuren funktioniert; für vordergründige Spannung sorgt im Grunde allein die Musik von Wolfram de Marco.