Herr Huber, die Corona-Krise hat das öffentliche Leben gestoppt. Vielen macht das Virus Angst. Wie geht es Ihnen?
Wolfgang Huber: Ich führe in dieser Situation ein privilegiertes Leben, weil ich mir keine Sorgen um den täglichen Unterhalt oder die berufliche Zukunft machen muss. Meine Frau und ich halten uns außerhalb von Berlin auf. Unsere Kinder haben uns gebeten, ernst zu nehmen, dass wir zu einer der Risikogruppen zählen. Zum Glück können meine Frau und ich überall arbeiten. Unser Alltag ist von Sorge und Trauer bestimmt, aber nicht von Angst. Umso wichtiger ist mir das Gespräch darüber, wie es in unserer Gesellschaft, in unserem Land, über unser Land hinaus und in unserer Kirche weitergehen kann.
Wie lange kann man der Gesellschaft diesen Zustand zumuten?
Huber: Es gibt niemanden, der das der deutschen Gesellschaft zumutet. Es ist ein Virus, das von uns verantwortliche, am Leben und Überleben der Menschen orientierte Reaktionen verlangt. Drastisch wird uns vor Augen geführt: Wir haben die Zukunft nicht in der Hand. Wir können nur versuchen, uns so konsequent wie möglich unserer Verantwortung zu stellen. Wir alle haben die Aufgabe, uns zu ermutigen, dass wir das durchhalten. Wir sollten nach Kräften eine Situation in den Krankenhäusern vermeiden, in der mehr Kranke beatmet werden müssen, als Kapazitäten vorhanden sind. Ärztinnen und Ärzte müssen, so gut es geht, vor der Entscheidung bewahrt werden, wem sie zu helfen versuchen und wem nicht. Und es muss Sorge dafür getragen werden, dass Alte und Schwerkranke besucht und seelsorgerlich begleitet werden.
Zu verhindern, dass Ärzte vor einem ethischen Dilemma stehen, ist der Grund für die Einschränkungen. Warum rechtfertigt dieses Ziel aus ethischer Perspektive, dass 80 Millionen Deutsche wochenlang im Prinzip nur zum Einkaufen ihr Haus verlassen können?
Huber: Weil dies der Ernstfall der menschlichen Würde ist. Wir wollen in einem Land leben, in dem kein Mensch nur unter dem Gesichtspunkt angesehen wird, was er der Gesellschaft nützen kann. Sondern jeder wird mit Blick auf die persönliche Integrität und die Unantastbarkeit seiner Würde angesehen. Sie zu achten, ist ein Gebot für jeden Einzelnen, nicht nur für den Staat. Deshalb verhalten wir uns so, dass die Gefahr für unsere Mitmenschen wie für uns selbst so gering wie möglich gehalten wird. Wenn wir das aus innerer Überzeugung tun, können wir ohne Beschädigung unseres freiheitlichen Zusammenlebens aus dieser Krise herausfinden.
"Sie nehmen aus Verantwortung Schuld auf sich, weil es in einer solchen Situation keinen Weg der Schuldvermeidung gibt"
Kann ein Arzt oder eine Ärztin nach ethischen Kriterien überhaupt eine Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen treffen?
Huber: Es gibt Situationen, aus denen man nicht schuldlos herausfindet, aber trotzdem handeln muss. Mit größtem Respekt müssen wir an Ärztinnen, Ärzten und Pflegende denken, wenn sie solche Situationen auf sich nehmen müssen. Wenn sie nicht allen helfen können, müssen sie einen Weg suchen, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Sie nehmen aus Verantwortung Schuld auf sich, weil es in einer solchen Situation keinen Weg der Schuldvermeidung gibt. Sie müssen tun, was sie in dieser Situation für das relativ Bessere halten. Als Gesellschaft müssen wir das mittragen.
Der Kirchenrechtlicher Hans Michael Heinig sprach kürzlich von einem "faschistoid-hysterischen Hygienestaat", der sich innerhalb kürzester Zeit entwickelt habe. Wie nehmen Sie die gesellschaftliche Debatte derzeit wahr?
Huber: Heinig hat gesagt, wir wollten uns nicht in wenigen Wochen in einem solchen Staat befinden. Die aktuellen Regelungen hat er ausdrücklich akzeptiert, wenn sie mit Augenmaß angewendet werden. Dem stimme ich zu. Zum Augenmaß können wir beitragen, indem wir die Einschränkungen aus Überzeugung akzeptieren und nicht aus äußerem Zwang. Erinnerungen an einen Staat, der die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt hat, sind zwar verständlich. So lange wir selbst an der Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft keine Zweifel aufkommen lassen, tragen wir dazu bei, dass die Einschränkungen beendet werden, sobald sie nicht mehr notwendig sind. Der springende Punkt ist, dass wir selbst freiheitsgesonnene und demokratische Bürgerinnen und Bürger bleiben; dann haben wir keinen Grund, über einen faschistoiden Staat zu fantasieren.
"Menschliche Nähe zeigt sich nicht nur darin, dass wir uns um den Hals fallen"
Wird die soziale Distanzierung etwas daran ändern, wie wir uns in Zukunft begegnen? Wird es nicht Spuren hinterlassen, dass wir unsere Mitmenschen augenblicklich als potenzielle Ansteckungsgefahr ansehen?
Huber: Der Begriff der sozialen Distanz war kommunikativ missverständlich: Es geht ja nicht um soziale, sondern um körperliche Distanz. Menschliche Nähe zeigt sich nicht nur darin, dass wir uns um den Hals fallen. Man kann jetzt in Ruhe überlegen, ob das die einzige Form ist, Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein, dass wir dann wieder mehr körperliche Nähe auch zwischen Fremden praktizieren, wenn wir es wieder dürfen.
Wie nehmen Sie das kirchliche Leben im Augenblick wahr?
Huber: Natürlich ist es ein schwerer Einschnitt, dass Gottesdienste derzeit nicht so gefeiert werden können, wie wir es gewohnt sind. Das Besondere des gemeinsamen Gottesdienstes und des gemeinsamen Gebets im Kirchenraum wird dadurch neu wahrgenommen, dass es fehlt. Bei allem Schmerz darüber bin ich beeindruckt, ja begeistert darüber, wie kreativ viele Verantwortliche auf diese Situation reagieren. Predigten und Andachten im Internet sind ein Beispiel dafür.
Sie haben in der Vergangenheit den Ärger der digitalen Kirche auf sich gezogen, weil Sie das Analoge starkgemacht haben. Jetzt loben Sie diese Möglichkeiten?
Huber: In einer Situation, in der uns das andere nicht möglich ist, finde ich es großartig, wie Rundfunkgottesdienste in Radio und Fernsehen gestaltet werden und wie die Gemeinden und die Pfarrerinnen und Pfarrer mit Hilfe sozialer Medien mit ihren Gemeindegliedern in Kontakt bleiben. Da zeigt sich etwas von der großen Vitalität der Kirche. Das sollten wir mitnehmen. Mich beeindruckt, wie viele evangelische Gemeinden ihre Kirchengebäude gerade in dieser Zeit demonstrativ offenhalten: Ausdruck für eine offene und öffentliche Kirche.
Mehr Menschen haben im Augenblick Interesse an kirchlichen Rundfunksendungen. Ist es für Sie ein ermutigendes Signal, dass das Interesse an Kirche bei einigen Menschen bleibt?
Huber: Es geht gar nicht um die Frage, was das für die Kirche als Institution bedeutet, sondern darum, was es für die Menschen bedeutet. Wir haben in der Kirche das uns Mögliche zu tun, damit Menschen zuversichtlich leben und getröstet sterben können. Erreicht das Evangelium von Gottes Güte die Menschen? Dieser Aufgabe müssen alle Anstrengungen dienen.
"Niemand will Kirchenräume zu Austauschorten für Viren machen"
Wir gehen auf Ostern zu, das wichtigste Fest der Christenheit. Es gibt Kritik daran, dass auch an Ostern keine Gottesdienste mit Gemeinde stattfinden sollen. Wäre es nicht legitim, wenigstens an Ostern mit dem gebotenen Abstand Gottesdienst zu feiern?
Huber: Die Kirche darf in dieser Frage keinen Ausnahmestatus in der Gesellschaft einnehmen. Niemand will Kirchenräume zu Austauschorten für Viren machen. Es gehört zur Vertrauenswürdigkeit der Kirche, dass sie es aushält, in dieser Frage solidarisch zu sein. Es ist eine großartige Aufgabe für dieses Osterfest 2020, neue Formen zu finden, in denen wir Gemeinschaft bekräftigen und die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi weitergeben. Niemand hat das jemals so erlebt, und gebe Gott, dass wir es nicht noch einmal erleben müssen. Insofern wird es ein einzigartiges Osterfest werden.