An der Einfahrt ins Dorf Gemünden grüßt neben dem Sattelbach am Straßenrand ein fast mannshohes Schild aus Holz: "Willkommen" ist aus einer Silhouette von Kirche und Fachwerkhäusern herausgeschnitzt. Die einst weiße Farbe der gotischen Buchstaben ist einem verwitterten Grau gewichen. Auch von der einst bunten Bemalung der üppigen Sonnenblumen und des Ortswappens ist nicht mehr viel übrig - Sinnbild besserer Tage, als in der Dorfgemeinschaft von Landflucht und Überalterung noch nicht die Rede war.
Gemünden mit seinen knapp 500 Einwohnern gehört zur Gemeinde Weilrod im hessischen Hintertaunus. Hier gibt es eigentlich nur eines: Landschaft. Deshalb will die Diakonie helfen, dem schwächelnden Dorfleben hier und anderswo neuen Elan zu geben - mit der Technik des 21. Jahrhunderts. In einem Modellprojekt mit insgesamt fünf diakonischen Trägern in mehreren Bundesländern wird ein Jahr lang getestet, wie sich das dörfliche Miteinander via Internet zu neuer Blüte führen lässt. Hoffnungsvoller Titel: "Dörfer mit Zukunft".
Es soll eine "digitale Dorfgemeinschaft" entstehen. Dazu kooperiert die Diakonie mit der Internetplattform "nebenan.de", die nach eigenen Angaben rund 1,3 Millionen aktive Nutzer hat. Lokale "Reallabore" testen, ob sich via Internet Kontakte zwischen den Dörflern anbahnen lassen.
Vernetzung hilft auch bei Krisen
Es gehe um eine professionell angeleitete Vernetzung aller Akteure im Dorf: Bürger, Vereine, Gewerbetreibende und Kirchengemeinden, sagt Maria Loheide, Vorständin der Diakonie in Berlin. Aber sie betont: "Dreh- und Angelpunkt bleiben persönliche Begegnungen." Diese sollen durch die Internetplattform erleichtert werden. Die digitale Vernetzung in der Nachbarschaft könne auch in Notsituationen hilfreich sein, wie sich im Umgang mit dem Coronavirus zeige, erklärt Loheide: "Nachbarschaften solidarisieren sich in den sozialen Medien, bieten schnelle Hilfe für alte und immungeschwächte Menschen an."
Für Streetworker Maurice Hellbaum von der Evangelischen Jugendhilfe Münsterland, die ebenfalls Projektteilnehmer ist, ermöglicht das Projekt "eine neue Perspektive auf den Nahraum". Durch soziale Medien bestehe zwar die Möglichkeit, Menschen aus aller Welt kennenzulernen, "aber kennt man auch noch seine Nachbarn?"
Projekt-Auftakt in Gemünden
Ende März ist der Projektauftakt in Gemünden geplant. Dort hängt am Eingang neben den Toren des Feuerwehrgerätehauses ein Schild: "Aktivitätenhaus/Familienzentrum Weilrod" des Diakonischen Werkes Hochtaunus. Hier arbeitet Kathrin Ehrmann, die das Digitalprojekt mit Verve koordiniert.
Abgehängte oder gar sterbende Dörfer? Solche Begriffe kommen der schnellsprechenden Diplom-Pädagogin mit den halblangen braunen Haaren nicht über die Lippen. Die klängen zu negativ, sagt sie, und sie entsprächen auch nicht der Realität. In Weilrod gebe es "weit mehr engagierte Leute, als ich selbst je vermutet hätte". Als sie 2018 für die Diakonie begann, ein Familienzentrum aufzubauen und die soziale Dorfentwicklung zu fördern, sei sie regelrecht baff gewesen, was es alles gab: Sportvereine, Feuerwehr, Flüchtlingshilfe, Landfrauen, Schützenvereine und Angebote der Kirchen.
Mitkriegen, wer wann zu was einlädt
Aber, erklärt Ehrmann: "Oft weiß Person A nichts von Person B. Die Bewohner kriegen einfach nicht mit, wer wann zu was einlädt." Es fehlten schlicht die Kommunikations- und Informationskanäle: "Die Presse bringt die Texte einmal, das war's. Dann bleibt nur noch der Aushang beim Rewe-Markt. Das kann es doch nicht sein."
Monika Nickel-Schuhmacher ist Rentnerin und stammt aus Gemünden. Sie pendelte jahrelang zur Arbeit bei der DHL ins nahe Rhein-Main-Gebiet, jeden Tag 60 Kilometer. "Es gab früher ein reges Vereinsleben und viele Menschen, die sich gerne in die Gemeinschaft eingebracht haben", erinnert sich die Kirchenvorsteherin. Da sei man selbst automatisch reingewachsen. "Heute fehlt der Zusammenhalt, weil jeder sein eigenes Ding macht", befindet die Rentnerin: "Die Egomanie ist groß geworden."
Doch Resignation sei keine Lösung, betont Nickel-Schuhmacher: "Als Mensch und als Christin sagt mir mein Gefühl, dass wir die Situation im Dorf ändern müssen und das auch können." Das Internet biete dazu gute Möglichkeiten, die müsse man nutzen: "Ich will eingreifen, wo ich etwas bewegen kann."
"Wenn sich die Bürger bei nebenan.de anmelden, können sie privat oder auch als Verein Such- und Kontaktanfragen veröffentlichen und Infos austauschen", erklärt Kathrin Ehrmann. Für Senioren werde es spezielle Schulungen geben. Vereine, Gruppen und Verbände könnten auch die Dorfgrenze überwinden und sich auf einer ganz neuen Ebene präsentieren. Knackpunkt: Es müssen möglichst viele Bürger mitmachen, damit die Kontaktbörse interessant wird.
Von digitaler in analoge Welt
Sozialpädagogin Maike Tepper leitet das diakonische Familienzentrum im schleswig-holsteinischen Ratzeburg, ein weiterer Projektteilnehmer. Sie hofft, "dass Menschen, die heute verstärkt digital unterwegs sind, auch in die analoge Welt starten", wie sie sagt. Der digitale Marktplatz sei auch optimal, um Tauschbörsen, digitale und analoge Flohmärkte oder Spielabende zu organisieren. Schließlich gehe es darum, Isolierung zu überwinden - und Jung und Alt zu verbinden.
Und Maurice Hellbaum sagt: "Ich wünsche mir, dass zum Projektende eine nachhaltig belebte Nachbarschaft entstanden ist, sowohl im digitalen als auch im physischen Raum." Jeder könne über nebenan.de seine eigenen Ressourcen bekanntmachen. "Dadurch können die Menschen ihre Gemeinsamkeiten entdecken, nachbarschaftliche Hilfen anbieten oder auch erhalten." Doch für Vorständin Maria Loheide ist auch klar: "Die Dörfer sind gefragt, sich selbst zu organisieren."