Diese Fähigkeit hat zuletzt das Krimidrama "Irgendwas bleibt immer" (2019, ZDF) zu einem besonderen Krimidrama gemacht: weil sich die Heldin bis zum Schluss nicht sicher sein konnte, ob ihr freundlicher Nachbar nicht doch seine Frau umgebracht hat. In dem Psychothriller "Im Schatten der Angst" gibt es diese Zweifel nicht. Der Film beginnt mit einer Szene, die zunächst wie ein aus dem Ruder gelaufenes Fesselspiel wirkt. Als der Mann gestört wird, zeigt er sein wahres Gesicht. Vor Gericht attestiert ihm ein Sachverständiger, er sei nicht zurechnungsfähig. Das Zeugnis einer zweiten Gutachterin fällt allerdings deutlich differenzierter aus; die entsprechende Vorgeschichte erzählt das gemeinsam verfasste Drehbuch von Rebekka Reuber und Marie-Therese Thill in langer Rückblende.
Die erste Begegnung zwischen Karla Eckhardt (Julia Koschitz) und Carsten Spanger (Dohnányi) findet in einem rosaroten Raum im Gefängnis statt. Die Farbe soll die Delinquenten beruhigen, und in der Tat wirkt der Wiener Architekt beim Gespräch mit der Psychiaterin geradezu tiefenentspannt. Die Ärztin soll feststellen, ob der Mann eine Gefahr für sich oder andere darstellt; wenn nicht, wird er vorerst wieder freigelassen, schließlich ist sein Opfer mit dem Schrecken davongekommen. Im Verlauf des Gesprächs wächst in Karla die Gewissheit, dass Spanger ein Wiederholungstäter sein könnte. Eine Polizistin (Marie-Christine Friedrich) greift den Gedanken auf und findet Hinweise auf vier Frauen, die unter ähnlichen Umständen verschwunden sind. Drei wurden später tot aus der Donau gefischt, aber die vierte könnte noch leben. Spanger bleibt jedoch bei seiner Version, der eskalierte Abend sei eine Ausnahme gewesen.
Nun beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Ärztin und Patient, bei dem die Rollen ständig wechseln, weil der charmante Architekt Karla dazu bringt, sich auf ein Quid pro quo einzulassen: Erst gibt er was preis, dann sie. Auf diese Weise, und darin liegt die eigentliche Faszination des Drehbuchs, entpuppen sich die beiden als Schicksalsgefährten: Spangers Mutter, eine nach eigener Ansicht begnadete, tatsächlich jedoch wohl eher talentfreie Schauspielerin hat ihren Sohn regelmäßig mit Liebesentzug bestraft. Karla wiederum wurde von ihrer Mutter dauernd in die Speisekammer gesperrt, seither hat sie Angst vor der Dunkelheit und hört immer wieder die Hilferufe eines kleinen Mädchens. Wer als Kind nicht geliebt wurde, stellt Spanger fest, bleibt "allein fürs Leben". Aber dann wird Karla das Gutachten entzogen, weil sie die Presse eingeschaltet hat, als weder Polizei noch Staatsanwalt ihrer Theorie vom Serientäter Glauben schenken wollten; kurz drauf findet sich die vierte Leiche. Damit wäre der Wettlauf gegen die Zeit zu Ende, aber die Psychiaterin ist überzeugt, dass Spanger ein weiteres Geheimnis hütet; um dieses Rätsel zu lösen, muss sie sich in Lebensgefahr begeben und ihr Kindheitstrauma überwinden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Kaum zu glauben, dass "Im Schatten der Angst" tatsächlich das erste verfilmte Drehbuch der beiden Autorinnen ist. Der Krimi ist clever konzipiert und sorgt immer wieder für Überraschungen; das Finale, als die Psychiaterin quasi buchstäblich in ihre eigenen Abgründe hinabsteigen muss, ist ohnehin ein kleiner Knüller. Gemessen an den beiden geradezu liebevoll entworfenen Hauptfiguren ist die eine oder andere Nebenrolle allerdings etwas schlicht geraten. Regelrecht ärgerlich ist beispielsweise die Figur des Ermittlungsleiters; Johannes Zeiler muss den Mann als grobschlächtigen Polizisten anlegen, der den Architekten auf billige Weise provoziert und plump jene Kollegin maßregelt, die gemeinsam mit Karla die Theorie vom Serientäter entwickelt. Spangers Verteidigerin (Michou Friesz) ist ebenfalls unnötig unsympathisch. Allzu eifrig wirkt zunächst auch der junge Assistent (Aaron Friesz) der Ärztin, der angeblich bloß ein Praktikant ist, dafür aber erstaunliche Befugnisse in der Gefängnispsychiatrie hat.
All’ das fällt jedoch nicht weiter ins Gewicht, weil der Film neunzig Minuten lang fesselnd ist. Die Qualität von Till Endemanns Inszenierung zeigt sich nicht zuletzt im weitgehenden Verzicht auf typische Thriller-Elemente: Außer beim Prolog und zum Finale resultiert die Spannung in erster Linie aus dem kammerspielartigen Mit- und Gegeneinander der beiden von Julia Koschitz und Justus von Dohnányi ebenso formidabel wie facettenreich verkörperten Hauptfiguren. Der Regisseur rehabilitiert sich mit dem Thriller für seinen letzten Film: "Wir sind doch Schwestern" (2018, ARD) war eine von den Titeldarstellerinnen zwar toll gespielte, aber im Rollator-Tempo umgesetzte Familiengeschichte vor dem Spiegel des 20. Jahrhunderts. Endemann hat sich seinen Namen vor allem mit authentischen Stoffen gemacht, die er im Auftrag des SWR verfilmt hat, allen voran "Flug in die Nacht" (2009), ein Film über das Unglück von Überlingen; ähnlich sehenswert waren auch "Carl & Bertha" (2011) und das Justizdrama über den Fall Harry Wörz ("Unter Anklage", 2014). Das Genre des psychologischen Thrillers mag Neuland für ihn gewesen sein, aber davon ist nichts zu spüren.