Hauptfigur seines Dramas ist eine Berliner Fachanwältin für Sexualstrafrecht; ihre Mandanten sind Männer, denen sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung vorgeworfen wird. Wer den Weinstein-Skandal verfolgt hat, kennt auch das Vorbild für die von Natalia Wörner kühl und kontrolliert verkörperte Annabelle Martinelli: Donna Rotunno ist die Verteidigerin des Filmproduzenten, der über achtzig Frauen sexuell belästigt oder vergewaltigt haben soll. Natürlich fragen sich viele Menschen, warum ausgerechnet eine Frau so einen Mann verteidigt, und es wäre sicher interessant gewesen, dieser Frage nachzugehen, was Becker allerdings nicht tut; selbst im Kreis ihrer Freundinnen muss sich die Anwältin nicht rechtfertigen. Deutlich wird allerdings die Strategie der Kanzlei: Dass die Mandanten vor Gericht von einer Frau vertreten werden, soll für einen psychologischen Vorteil sorgen.
Trotzdem gerät Annabelle in ein Loyalitätsdilemma, als ihr Chef und Geliebter, John Quante (Fritz Karl), sie bittet, den Geschäftsführer eines großen Unternehmens zu verteidigen: Sein Freund Mike Petry (Felix Klare) soll nach einem Geschäftstermin in einem Nobelhotel seine Assistentin vergewaltigt haben. Bei dem Opfer, Mirella Hayek (Franziska Hartmann), handelt es sich um eine enge Freundin der Anwältin. Petry streitet zunächst alles ab, räumt aber später ein, es habe einvernehmlichen Sex gegeben. Quantes Verteidigungsstrategie ist simpel: Annabelle soll ihre Freundin überzeugen, sich für ihr Schweigen mit einer großzügigen Summe bezahlen zu lassen. Der Kanzleichef will den Fall gar nicht erst vor Gericht kommen lassen. Zur Verblüffung aller Beteiligter will Mirella jedoch kein Geld, sondern Gerechtigkeit. Allerdings ist sie aus Scham weder zum Arzt noch zur Polizei gegangen. Und noch eins stimmt die Anwältin skeptisch: Vor zwanzig Jahren hat sie ihre Freundin bei einem ähnlichen Vorfall vertreten. Auch damals stand Aussage gegen Aussage; der Angeklagte wurde freigesprochen.
Normalerweise wäre das Stoff genug für einen Fernsehfilm, aber Becker ergänzt die Handlung um eine weitere Ebene: Donna Labiaki (Almila Bagriacik) bezichtigt ihren Freund, den bekannten Rapper Momo Makiadi (Lefaza Jovete Klinsmann), ebenfalls der Vergewaltigung. Die juristische Ebene ist ähnlich, das Milieu hingegen nicht, was Becker weidlich ausschöpft; der einschlägig vorbestrafte Momo ist zwar ähnlich vermögend wie Petry, aber sein frauenfeindlicher Sprachgebrauch ist ein völlig anderer. Auch die Vorzeichen sind unterschiedlicher Art: Während auf den Begegnungen Annabelles mit ihrer Freundin stets ein Schatten des Zweifels lastet, scheint die Anwältin der temperamentvollen Rapper-Freundin vorbehaltlos zu glauben. Dass Momo eine andere Sicht der Ereignisse hat, gehört zum üblichen Schema: Seiner Ansicht nach ist Donnas Vorwurf das Resultat ihrer Eifersucht, nachdem sie ihn mit einem Groupie erwischt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Im Grunde erzählt Becker zweimal die gleiche Geschichte, denn in beiden Fällen will die Anwältin die Wahrheit rausfinden. Trotzdem ergänzen sich die beiden Ebenen auf reizvolle Weise: hier die Welt der Vorstandsetagen, deren Protagonisten überzeugt sind, mit Geld alles und jeden kaufen zu können; dort das pralle Leben voller Emotionen. Darstellerisch ist der Handlungsstrang mit dem Rapper und seiner Freundin etwas interessanter, weil Lefaza Jovete Klinsmann und Almila Bagriacik ihre Figuren mit großer Hingabe und spürbarem Genuss an den Rollen verkörpern. Die Besetzung ist wie stets bei Becker ohnehin verschwenderisch namhaft: Wer zu seiner großen Ensemble-Familie gehört, ist sich auch nicht zu schade, in Miniauftritten mitzuwirken; und Tobias Oertel zum Beispiel hat gegen Ende nur ein paar Sätze, spielt aber trotzdem eine Schlüsselrolle. Davon abgesehen ist "Wahrheit oder Lüge" ein eher ungewöhnlicher Stoff für den Regisseur, der seit 2003 für das ZDF 16 "Nachtschicht"-Episoden gedreht hat. Auch sonst ist seine jüngere Filmografie von Krimis und Thrillern geprägt: hier die beiden "Guter Bulle"-Filme mit Armin Rohde, dort die ähnlich fesselnde lose Reihe mit Fritz Karl und Nicholas Ofczarek als verkommenes Hamburger Ermittlerduo (zuletzt "Reich oder tot").
Das Justizdrama hat Becker dagegen aus gutem Grund im Stil seiner Hauptfigur inszeniert: kühl und sachlich. Auf diese Weise bleibt nicht nur lange offen, was Lüge und was Wahrheit ist. Außerdem weiß der erfahrene Regisseur natürlich, wie dünn das Eis ist, auf das er sich mit seinem Film begibt; immerhin wird den Frauen unterstellt, sie würden sexuelle Belästigungen oder gar Vergewaltigungen erfinden, um sich an Männern zu rächen. Aufgrund der komplexen juristischen Gemengelage gibt es zwar viel Erklärungsbedarf, aber das ist dank der ausnahmslos vorzüglichen Darsteller kein Problem.