Willy Brandt kniet am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos, in Deutschland fliegt der erste Rettungshubschrauber, der erste "Tatort" flimmert über die Mattscheibe, die Beatles trennen sich: 1970 ist in vielfacher Hinsicht ein bewegtes und bewegendes Jahr. Das gilt auch für Claus-Dieter Winkelmann, der als junger Mann für den Kirchenvorstand der evangelischen St.-Lucas-Kirchengemeinde in Scheeßel bei Bremen kandidiert. Er wird gleich im ersten Anlauf gewählt - und arbeitet seither ununterbrochen mit. Seit nunmehr 50 Jahren.
Ein seltenes Dienstjubiläum
Genaue Statistiken werden zwar nicht geführt. Aber ein halbes Jahrhundert freiwilliges Engagement in einem Kirchenvorstand - das ist zweifellos ein ganz seltenes Dienstjubiläum, in Niedersachsen genauso wie in ganz Deutschland. Am 1. Februar 1970 wurde der damals 21-Jährige gewählt - und hatte doch schon lange vorher in der Kirche aktiv mitgemischt, bei der evangelischen Jugend und beim CVJM. "Ich kann was bewegen, mein Fachwissen ist gefragt", beschreibt der agile 71-Jährige seine Motivation. Als gelernter Sparkassenbetriebswirt ist er seit Jahrzehnten in seiner Kirchengemeinde der Hüter der Zahlen.
Tausende Seiten Dokumente, Listen über Listen, Ordner über Ordner, komplizierte Zahlenkolonnen, die seine Augen leuchten lassen: Winkelmann archiviert akribisch das Gemeindeleben und braucht nicht lange zu wühlen, wenn er etwas sucht. Ein Griff, und schon hat er beispielsweise den Brief des hannoverschen Landesbischofs Hanns Lilje (1899-1977) zur Hand, in dem der leitende Theologe Winkelmann 1970 zu seinem neuen Amt gratuliert und hinzufügt: "Gott segne Sie und die Gemeinde durch Ihre Tätigkeit."
Den richtigen Blick und Sorgfalt
Dass all die Jahre Segen auf seiner Arbeit in der großen Gemeinde mit heute 8.000 Mitgliedern lag, davon ist die Kirchenvorstandsvorsitzende Susanne Schenck-Nekarda fest überzeugt. "Ich bin mir sicher, dass wir wegen seines Engagements finanziell so gut aufgestellt sind", meint sie, und weiß auch, woran das liegt: "Claus-Dieter Winkelmann hat ein Blick für Dinge, die Sorgfalt erfordern." In der Zusammenarbeit gehe es ihm nicht darum, Recht zu behalten. "Es geht ihm darum, dass es korrekt ist." Oder, wie Schenck-Nekarda auch formuliert: "Fürsorglich dafür eintreten, dass es gut wird - das ist seine Grundhaltung."
Dabei sah die Kirche noch ganz anders aus, als Winkelmann im Vorstand durchstartete. Es war noch nicht lange her, da saßen Frauen und Männer nach Geschlechtern getrennt in den Bänken der Lucaskirche. Zu den Vorstandssitzungen lud der Pastor in sein privates Esszimmer ein. Die Herren kamen im dunklen Anzug, es gab nur zwei Frauen im leitenden Gremium. "Es wurde viel geraucht und wenig diskutiert", erinnert sich Winkelmann. Der Vorstand nickte mehr oder minder das ab, was der Pastor vorschlug.
Raus aus dem kirchlichen Schneckenhaus
Heute erscheinen die Kirchenvorsteher zu ihren Sitzungen in Jeans und die Gemeinde ist so etwas wie ein mittelständischer Betrieb, mit etlichen Hauptamtlichen, Hunderten Ehrenamtlichen, einer Stiftung und einer Diakonie-Sozialstation. "Wir müssen uns öffnen, müssen raus aus dem kirchlichen Schneckenhaus", beschreibt Winkelmann seine Auffassung von Gemeindearbeit. Der Mann, der ausgezeichnet Plattdeutsch spricht und dem ein trockener Humor nachgesagt wird, lebt es selber vor, ist auch Mitglied im örtlichen Schützenverein und engagiert sich bei den "Beekscheepers", einer Tanz- und Trachtengruppe.
Aufregerthemen hat es seiner Erinnerung nach selten gegeben. Die Entscheidung, den Abendmahls-Wein durch Traubensaft zu ersetzen, das sei heiß diskutiert worden. Bewegendes gab es mehr: Friedensandachten während des zweiten Golfkrieges, Zeltmissionen, der Besuch von Landesbischöfin Margot Käßmann zur 1.200-Jahr-Feier des Ortes.
Er wünsche sich, dass die Kirche Traditionen wie den 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntag bewahre, aber auch offen für Neues sei, blickt Winkelmann in die Zukunft. Bis zum Ende der laufenden sechsjährigen Amtsperiode will er noch dabei sein, dann möchte er nicht mehr kandidieren. Ans Hinschmeißen habe er zwischenzeitlich aber nie gedacht. Auch, weil ihm der Zusammenhalt und die Verantwortung der Gemeinschaft der Gläubigen so wichtig sind: "Pastoren kommen und gehen - aber die Gemeinde bleibt."