Das hat auch mit den beiden Hauptdarstellern zu tun, zumal sich Ulrich Noethen als Hamburger Psychiater Joe Jessen und Juergen Maurer als grimmiger Hauptkommissar Vincent Ruiz formidabel ergänzen. Während sich der an Parkinson erkrankte Arzt für gewöhnlich mit den Problemen seiner Patienten befassen muss, wird er in der sechsten Episode, "Erlöse mich", selbst von einem Dämon heimgesucht: Im letzten Film, "Sag, es tut dir leid" (2018), hat Jessen einen Mörder (Gerhard Liebmann) erschießen müssen, um ein Mädchen zu retten; und der sucht ihn nun regelmäßig heim, um ihn zu provozieren. Der Reihentitel gilt daher vor allem der Hauptfigur; Jessen ist ohnehin neben der Spur, seit sich Ehefrau Nora (Petra van de Voort) von ihm getrennt hat. Der Psychiater ist ins Wochenendhaus gezogen und hofft wider besseres Wissen auf eine Wiedervereinigung. Geschickt sorgen Mathias Klaschka, der auch die letzten drei Drehbücher der Reihe geschrieben hat, und Regisseur Josef Rusnak dafür, dass nicht nur Jessen den Bezug zur Realität verliert. Als Zuschauer kann man sich nie sicher sein, ob seine seltsamen Erlebnisse Alptraum, Hirngespinst, Wunschvorstellung oder Rückblende sind, selbst wenn sich bei einigen Szenen leichte Unschärfen erkennen lassen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gehörig aus der Bahn geworfen ist auch Milena Lorenz (Anna Bederke). Die Frau hat als Kind mitansehen müssen, wie ihre hochschwangere Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Weil ihr spurlos verschwundener Mann einen Haufen Spielschulden hinterlassen hat, muss sie sich für den Gläubiger, Hasim Klaudiusz (Eray Egilmez), eine bekannte Rotlichtgröße, als Prostituierte für betuchte Freier verdingen. Als ein Kunde nicht zahlt, wird sie von Klaudiusz’ Fahrer fürs Grobe übel zugerichtet. Kurz drauf wird die Leiche des Mannes gefunden. Später stirbt auch sein Boss; für Ruiz gibt es keinen Zweifel, dass die Frau die beiden Männer ermordet hat. Ein Besuch Jessens beim Kollegen Sternberg (Rüdiger Vogler), der die nach dem Tod der Mutter in einem Kinderheim aufgewachsene Milena behandelt hat, scheint die Theorie des Kommissars zu bestätigen: Sternberg berichtet von Bewusstseinsstörungen in Verbindung mit kurzzeitigem Gedächtnisverlust; das Mädchen sei gewalttätig geworden, habe sich anschließend aber an nichts mehr erinnern können. Tatsächlich pflastern Leichen Milenas Weg; aber die Erklärung dafür ist eine ganz andere.
Der Reiz des anspruchsvollen Films besteht in erster Linie in den beiden Psychogrammen, die Klaschka entwirft, zumal es recht lange dauert, bis die Geschichte tatsächlich zum Krimi wird, weil Jessen erst mal mit sich selbst beschäftigt ist. Dennoch ist "Erlöse mich" von Beginn an faszinierend; die Spannung ist diesmal über weite Strecken anderer Art, selbst wenn es natürlich auch um die Frage geht, ob Milena in dieser Geschichte Opfer oder Täterin ist. Im letzten Drittel wird der Film dafür umso packender, als Jessen klar wird, dass nicht nur seine Patientin, sondern auch ihre beiden Kinder in großer Gefahr schweben. Klaschka gehört ohnehin zu den besten Krimiautoren; er hat fast alle Drehbücher für die ähnlich vorzügliche ZDF-Reihe "Kommissarin Heller" (mit Lisa Wagner) geschrieben und ist Schöpfer von "Solo für Weiss" (mit Anna Maria Mühe, ebenfalls ZDF). Die Filmografie von Regisseur Rusnak ist dagegen deutlich überschaubarer, aber auch er steht für Qualität. Zu seinen letzten Arbeiten zählen ein "Polizeiruf" aus Magdeburg ("Starke Schultern", 2018) sowie die vierte "Tel-Aviv-Krimi"-Episode ("Alte Freunde", 2018, ARD). Mit "Totengebet" (2019, ZDF) hat er auch den jüngsten Beitrag zur ZDF-Krimireihe mit Jan Josef Liefers als Anwalt Vernau gedreht; der Film war deutlich sehenswerter als die früheren Episoden.
Wie stets bei "Neben der Spur" ist auch die Bildgestaltung (diesmal Ralf Noack) vorzüglich, und das nicht nur wegen einer faszinierenden Einstellung eines spiralenförmigen Treppenhauses, seit Robert Siodmaks Klassiker "Die Wendetreppe" ohnehin ein Symbol für psychische Störungen; in diese Richtung geht auch die ausgezeichnete Musik von Christoph Zirngibl. Ein durchgehendes Markenzeichen der Reihe sind die beiläufig eingesetzten Spiegelbilder, wobei die Spiegelungen diesmal vor allem durch Glasscheiben hervorgerufen werden. Die Kamera zeigt die Figuren zudem gern aus der Untersicht, was Zuschauer automatisch in die Defensive drängt. Gewohnt vorzüglich sind die Leistungen der Schauspieler. Für die zwei Hauptdarsteller gilt das ohnehin, aber auch die Gastrollen fügen sich vortrefflich ein. Besonders reizvoll sind Jessens Zwiegespräche mit dem imaginären Feind, eine interessante Parallele zu Milenas Ebene, denn deren kleiner Sohn hat gleichfalls einen unsichtbaren Gefährten. Auf diese Weise wirkt "Erlöse mich" sehr lange sehr rätselhaft und mysteriös, bis sich die Spannung schließlich in einem erschütternden Finale entlädt.