Um ein Generationsmerkmal handelt es sich allerdings vermutlich nicht, aber das ist tatsächlich der einzige Aspekt, den die zweiteilige Dokumentation nicht weiter vertieft: Die elterliche Sorge scheint keine Frage des Alters zu sein; womöglich sind ältere Eltern, die ihr erstes Kind bekommen, sogar noch besorgter als jüngere Väter und Mütter.
"Social Factual" nennt das ZDF diese Art Fernsehen. Vor einigen Jahren hat der ZDF-Ableger Neo damit begonnen, unter dieser Bezeichnung sozialpsychologische Experimente zu veranstalten. Darin ging es zum Beispiel darum, wie leicht sich Gruppen Vorurteilen unterwerfen ("Der Rassist in uns", 2014) oder in Gewaltbereitschaft versetzen lassen ("Plötzlich Krieg?", 2015) oder wie rasch Menschen bereit sind, sich einer anonymen Macht zu unterwerfen ("Diktator", 2017). "Generation Helikopter-Eltern?" mit Collien Ulmen-Fernandes funktioniert jedoch ganz anders und orientiert sich deutlich stärker am Muster der sogenannten Presenter-Reportage. Die Moderatorin hat schon in "No More Boys and Girls" (2018, über die Rollenbilder bei Grundschulkindern) bewiesen, dass sie eine ausgezeichnete Wahl ist, zumal sie nahtlos und authentisch in unterschiedliche Rollen schlüpft. Ganz gleich, ob sie Wissenschaftler interviewt, Kinder befragt oder Eltern begleitet: Sie tut dies immer auch als Mutter.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Generation Helikopter-Eltern?" zeichnet sich jedoch nicht nur durch Informationsvermittlung, sondern vor allem durch ein schlüssiges Konzept aus: Die beiden Sendungen bilden eine gelungene Mischung aus Expertengesprächen, Kinderalltag und Versuchsanordnungen. Mit deren Hilfe will Ulmen-Fernandes eine scheinbar harmlose Frage beantworten: "Was ist so falsch daran, wenn man seinen Kindern negative Erfahrungen ersparen möchte?" Ihre stärksten Momente hat die Dokumentation immer dann, wenn die Bilder derart beredt sind, dass ein Kommentar kaum noch nötig ist: In einem Experiment sollen zwei- bis dreijährige Kinder allein eine Sprossenwand hochklettern; oben wartet ein Einhorn-Plüschtier auf sie. Auf dem Boden liegt eine dicke Matte, den Kindern kann nichts passieren; trotzdem hält es viele Mütter nicht auf ihren Sitzen. Ergänzende Interviews verdeutlichen: Auch die Väter sorgen sich um ihre Kinder.
Nicht minder spannend sind die Gespräche mit den Experten; der Erkenntnisgewinn ist enorm. Die Sachverständigen sind zudem klug ausgewählt, zumal sie ihre Ausführungen anschaulich und engagiert vortragen: ein Hirnforscher, eine Kinderpsychologin und schließlich der ehemalige Gymnasialdirektor Josef Kraus, der schon 2013 mit seinem Buch "Helikopter-Eltern" vor "Förderwahn und Verwöhnung" gewarnt hat. Heute wählt er noch deutlichere Begriffe, er spricht von "Drohneneltern" im Kontrollwahn oder gar von "Kampfhubschrauber-Eltern", die sich permanent in den schulischen Alltag einmischten. Kinder könnten jedoch nicht lernen, Eigeninitiative zu entwickeln, wenn sie frühzeitig daran gewöhnt würden, dass sämtliche Hindernisse aus ihrem Weg geräumt würden.
Hirnforscher Ralph Dawirs erläutert, welche Folgen es für die Kinder an der Kletterwand hat, wenn Eltern die Botschaft "Das schaff’ ich allein!" ignorieren: Die Kleinen werteten dies als mangelnde Vertrauenskompetenz. Kinderpsychologin Silvia Schneider spricht in diesem Zusammenhang von "Selbstwirksamkeit", die Kinder nur dann lernten, wenn sie Herausforderungen allein bewältigten. Dawirs weist zudem darauf hin, wie wichtig es sei, dass Kinder frühzeitig "die Kunst des erfolgreichen Scheiterns" lernten; der Neurobiologe plädiert daher für eine "kultivierte Vernachlässigung". Anders gesagt: Eltern müssen loslassen. Ähnlich wenig wie von der Überhütung hält Dawirs von der kindlichen Frühförderung. Der Begriff sollte seiner Ansicht nach für Menschen mit Behinderung reserviert bleiben; Gras, zitiert er eine alte chinesische Weisheit, "wächst nicht schneller, wenn man daran zieht".
Die große Qualität der kurzweiligen Dokumentation liegt in der gelungenen Kombination von Theorie und Praxis: weil die akademischen Ausführungen stets um Beispiele aus dem Alltag oder entsprechende Experimente ergänzt werden. Welchen Einfluss die Gemütslage der Mütter schon auf Babys hat, veranschaulicht die Kinderpsychologin Silvia Schneider (Universität Bochum) im zweiten Teil mit einem verblüffenden Versuch, bei dem die Kinder an einer "visuellen Klippe" scheitern, wenn die Mütter vorher mit Hilfe eines Filmausschnitts in einen Zustand ängstlicher Erregung worden versetzt sind. Mit einem schlichten Test belegt Ulmen-Fernandes, wie unbegründet die typischen Sorgen vieler Eltern sind, weil sie die Gefahren im Straßenverkehr auf fast schon groteske Weise überschätzen. Wie man Kinder dagegen stark macht, zeigt ein abschließender Ausflug in den Hochseilkletterwald. Am Schluss gibt es lauter strahlende Gesichter – bei klein und groß. Neo zeigt beide Teile hintereinander.