Betroffene und Kirche wollen gemeinsamen Weg gehen

 Kerstin Claus aus dem Betroffenenrat des UBSKM.
© Lilith Becker
Kerstin Claus vom Betroffenenrat beim UBSKM und Heinrich Bedford-Strohm im Gespräch auf der EKD-Synode in Dresden.
Betroffene und Kirche wollen gemeinsamen Weg gehen
Die Kirche habe bisher die Deutungshoheit über das, was in der Aufarbeitung mit Betroffenen passiere, sagte Kerstin Claus vom Betroffenenrat beim UBSKM. "Erst, wenn Sie diese aufgeben, werden Sie eine Haltung uns Betroffenen gegenüber finden."

Frühstückszeit am Dienstagmorgen der EKD-Synode 2019 in Dresden: Detlev Zander und Kerstin Claus mischen sich unter die frühstückenden Synodalen. Diese beiden Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend von Menschen in der evangelischen Kirche Gewalt und Demütigungen erlitten haben. Schon einen Abend vorher sind sie angereist, um am Dienstag auf der Synode der EKD mit den Abgeordneten des Kirchenparlaments ins Gespräch zu kommen.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Betroffene wie Claus und Zander in diesem November 2019 auf der EKD-Synode stellvertretend für Betroffene sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche sprechen können. Viele hätten keine Stimme mehr oder seien durch die schrecklichen Gewalterfahrungen ihrer Kindheit verstummt, sagt Detlev Zander.

Beim Frühstückskaffee erzählt Zander von Michael, der sich das Leben nahm. Ein Pfarrer im Kinderheim und ein Hausmeister hätten Michael und viele weitere Kinder regelmäßig über Jahre hinweg vergewaltigt und geschlagen. "Der Pfarrer hat uns Teufelsbrut genannt und uns verprügelt. Das war Exorzismus. Dann hat er uns aus der Bibel vorgelesen und uns anschließend vergewaltigt." Vierjährige, fünfjährige Kinder. Michael kam als dreijähriger ins Kinderheim. Mit 21 Jahren nahm er sich das Leben. "Er wickelte sich zum Sterben in ein weißes Laken, wie Jesus. Er hatte auf einen Zettel einen Bibelspruch geschrieben", erzählt Detlev Zander.

So fand man Michael. Der Hausmeister habe eigenhändig das Loch für das Grab des jungen Mannes gegraben, "wir haben ja kein Geld für Micha", sagte er Detlev, der Blümchen für die Beerdigung des Freundes besorgte.

Nach Angaben der württembergischen Landeskirche hat die Kommission, die die Vorfälle in Korntal untersucht hat, in Akten und Anhörungen keine Belege für sexualisierte Gewalt durch den beschuldigten Pfarrer gefunden.

Detlev Zander hat einen aufreibenden Prozess der Wahrheitssuche und Aufklärung in der Brüdergemeinde Korntal hinter sich - oder ist noch mitten drin. Je nachdem, welche Sicht man wählen möchte. Im November 2019 ist er jedenfalls in der Lage, der schweigenden Mehrheit von Menschen seine Stimme zu leihen, die als Kinder unvorstellbares Leid ertragen mussten, das sie und ihn selbst ein Leben lang begleitet.

Deswegen ist es ein großes Signal, dass neben der Rede der Mitglieder des EKD-Beauftragtenrates Kirsten Fehrs und Nikolaus Blum, nicht nur Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) vor der EKD-Synode reden darf - sondern auch Kerstin Claus aus dem Betroffenenrat des UBSKM. Ein bayrischer Pfarrer hatte sie in den 1980er Jahren über Jahre sexuell missbraucht.

Nach den Reden am Vormittag dankt Kerstin Claus Bischöfin Kirsten Fehrs, dass sie eine Rede ohne "Wenn und Aber" habe halten dürfen. Die Evangelische Kirche habe ihr die Tür aufgehalten. "Dass wir heute hier zusammen sitzen", sagt Kerstin Claus, sei der beharrlichen jahrelangen Arbeit vieler Betroffener zu verdanken. Und der ehrlichen Offenheit der Bischöfin Fehrs und dieser Synode, die sich darauf eingelassen hätten.

"Stärken Sie Frau Fehrs. Sie ist eine unermüdliche Kämpferin", riet Kerstin Claus deshalb auch den Synodalen in ihrer Rede. Kirsten Fehrs bekommt dafür viel Applaus. Als Kerstin Claus den Synodalen jedoch sagt, sie unterstelle ihnen "hier und heute: Sie und Ihre Kirche haben noch immer keine klare Haltung gefunden, was uns Betroffene angeht", klatschen die Anwesenden naturgemäß nicht.  Das, was die Evangelische Kirche jetzt angehen muss, um ihre moralische Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft nicht zu verlieren, sind harte Schritte, viele Schritte. "Aufarbeitung ist kein Sprint. Aufarbeitung ist ein Marathon", sagt Kerstin Claus.

Zentraler Bestandteil dieser Bemühungen soll ein einheitlicher Umgang aller 20 Landeskirchen mit Betroffenen auf allen Ebenen sein, der nun erarbeitet werden muss. Beispielsweise sollen die mittlerweile 18 Unabhängigen Kommissionen in den Landeskirchen, die sich mit verjährten Fällen sexualisierter Gewalt beschäftigen, zukünftig einheitlich vorgehen. In ihrer Rede zeigen Fehrs und der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum Handlungsschritte auf, die sich vom 11-Punkte-Handlungsplan der EKD-Synode 2018 ableiten und darüber hinaus gehen.

Vision einer Kirche "die Strukturen schafft, in denen Kinder und Jugendliche sprechfähig sind, weil sie Rechte haben und ihnen zugehört wird"

Die Einrichtung eines Betroffenenbeirates bei der EKD ist dabei wohl eine der wichtigsten Entscheidungen: "Ein Elf-Punkte-Plan ist das eine", sagt Kirsten Fehrs, "Entscheidend ist, dass emotional ankommt, was das bedeutet."

Kerstin Claus hat bei aller Kritik an der fehlenden gemeinsamen Haltung und dem bisher fehlenden professionellen Unterbau in den Landeskirchen der EKD auch eine Hoffnung mitgebracht: Trotz aller persönlichen Rückschläge habe sie eine Vision von Kirche, "die vorangeht. Sprechräume schafft, Tabus aufbricht, sexualisierte Gewalt zum selbstverständlichen Thema macht. Eine Kirche, die Strukturen schafft, in denen Kinder und Jugendliche sprechfähig sind, weil sie Rechte haben und ihnen zugehört wird. In der gleichzeitig Täter immer machtloser werden, weil sie nicht mehr auf das Schweigen Aller setzen können."

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"Ein Kulturwandel ist nötig", antwortet Kirsten Fehrs. Und: "Wir nehmen die Vision von Frau Claus auf." In der Aussprache der Synodalen wird deutlich, dass Kerstin Claus' konstruktiver Ansatz eine wirkliche Erleichterung ist, weil ihre Rede nicht bei der Mahnung stehen bleibt. Es zeigt sich, dass Angst vor den Betroffenen, weil ihre Geschichten das Selbstbild einer moralisch überlegenen Institution stören könnten, nicht angebracht ist. Im Gegenteil: Nur dieser mutige, offene Umgang miteinander und das möglichst gleichberechtigte Sprechen voreinander schaffen echtes Vertrauen.

Detlev Zander ist zuversichtlich an diesem Tag. Er möchte sich für den EKD-Betroffenenbeirat bewerben und hoffentlich von nun an einen gemeinsamen Weg Betroffener und der Kirche mitgestalten.

Korrektur: In einer vorherigen Version des Textes war der Name des in Korntal beschuldigten Pfarrers genannt. Die Vorwürfe waren im bisherigen Aufklärungsprozess der Brüdergemeinde von der Untersuchungskommission als nicht glaubwürdig eingeordnet worden, deshalb hat die Redaktion die Namensnennung gestrichen.