Kurz vor der Wende setzte ihn ein Schicksalsschlag außer Gefecht. Pastor Christoph Wonneberger, der Erfinder der Montagsgebete in der DDR, erlitt am 30. Oktober 1989 einen Hirninfarkt. Den Fall der Mauer ein paar Tage später am Abend des 9. November nahm der damals 45-Jährige gar nicht mehr wahr - obwohl er an diesem politischen Erfolg selbst maßgeblich beteiligt war. Der Pastor und Friedensaktivist lag zu dieser Zeit im Krankenhaus in Leipzig und konnte nicht mehr sprechen. "Ich habe das nicht mitgekriegt", erinnert sich Wonneberger. "Ich habe nur gemerkt, dass in der Klinik alle viel aufgeregter waren als sonst."
"Ich habe das nicht mitgekriegt"
Genau 30 Jahre später ist der Leipziger Theologe, heute 75 Jahre alt, nach Engelbostel bei Hannover gekommen und spricht in einem Gottesdienst und vor Schülern über die Wendezeit. Mit der Martinskirchen-Gemeinde in Engelbostel war Wonnebergers Lukasgemeinde seit 1986 durch eine lebendige Partnerschaft verbunden.
Der Hirninfarkt habe ihn mitten in der heißen Phase zwischen der ersten großen Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober und der Maueröffnung einen Monat später getroffen, erzählt der Pastor. Der gebürtige Erzgebirgler stand damals im Zentrum der Ereignisse. Bereits 1982, als er noch in Dresden tätig war, hatte der Friedensaktivist die Idee eines gemeinsamen Friedensgebets an Montagen entwickelt.
Von 1986 an koordinierte er diese Gebete in Leipzig. Sie fanden in der dortigen Nikolaikirche statt. "Ideen und Gebete dürfen aber nicht zum Ersatz für das Handeln werden", betont Wonneberger. Zu viele DDR-Bürger wollten damals aus seiner Sicht einfach nur ausreisen, statt für Veränderungen zu kämpfen. Für sie sei der Westen ein idealisiertes Traumziel gewesen: "ein Himmel voller Geigen". Wonneberger dagegen wollte nicht fliehen. Er wollte die DDR verändern. Und im Herbst 1989 kamen immer mehr Menschen wie er zusammen.
Holger Kiesé war damals Jugenddiakon der Engelbosteler Martinsgemeinde. Beim Partnerschaftsbesuch im September 1989 notierte er in sein Tagebuch: "Es liegt etwas in der Luft. Es knistert bei unseren Gesprächen. Christoph orakelte, es wird sich etwas tun, vielleicht etwas verändern."
Die Revolution kam aus den Kirchen
Es änderte sich alles: Zu den Friedensgebeten kamen im Wendeherbst Tausende von Menschen. Direkt aus den Kirchen strömten die Leipziger auf die Straßen. Aus den Gebeten entwickelten sich die Montagdemos, und sie schwollen von Woche zu Woche an. Christoph Wonneberger hatte selbst keine Zeit zu demonstrieren, weil er als Organisator an allen Ecken eingespannt war. Allein vom 8. auf den 9. Oktober druckte er mit seinen Mitstreitern 30.000 Flugblätter. Schließlich zogen 70.000 Menschen mit Kerzen friedlich durch die Innenstadt, um gegen das DDR-Regime zu protestieren. Pastor Wonneberger wurde live in den "Tagesthemen" interviewt.
Doch der Hirninfarkt riss den Friedenskämpfer mit einem Mal aus dem Arbeitsleben. Pastor Christian Führer (1943-2014) übernahm fortan als Hausherr der Nikolaikirche die Leitung der Friedensgebete. Als die Grenzen nach dem 9. November offen waren, brachten Freunde aus Engelbostel den schwer kranken Wonneberger zur Behandlung in die Medizinische Hochschule nach Hannover. Sechsmal hatten die Niedersachsen ihre Partner bis zur Wende besucht und dabei unter anderem ein Matrizen-Druckgerät in Einzelteilen nach Leipzig geschmuggelt. Wonneberger druckte darauf die Flugblätter, mit denen er zu den Montagsdemos einlud.
Der Pastor blieb ein Jahr in Niedersachsen, wohnte während der Behandlung bei Kirchenvorstand Henning Jakob in Engelbostel und sechs Monate im Kloster Wülfinghausen bei Hannover. Mit logopädischen Übungen, einer Gesangstherapie und langen Fahrradtouren hat sich er sich über Jahre hinweg zurück ins Leben gekämpft. Heute kann Wonneberger wieder normal sprechen. Seinen Beruf musste er jedoch aufgeben. Seit 1991 ist er im Ruhestand.