TV-Tipp: "Stunden der Entscheidung" (ZDF)

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TV-Tipp: "Stunden der Entscheidung" (ZDF)
4.9., ZDF, 20.15 Uhr
In kritischen Porträts wird Angela Merkel gern als zaudernde Regierungs-Chefin charakterisiert, die unbequeme Entscheidungen so lange wie möglich hinauszögert. Deshalb sticht dieser eine Moment aus den Jahren ihrer Kanzlerschaft heraus.

In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 fasste sie den Entschluss, die deutsche Grenze für syrische Flüchtlinge zu öffnen. Christian Twentes Film "Stunden der Entscheidung" rekonstruiert die Ereignisse in einer mit packender Thriller-Musik unterlegten Parallelhandlung: hier ein zunächst ganz normaler Tag im Leben einer Bundeskanzlerin, dort die vielen Menschen, die über die sogenannte Balkanroute vor dem Krieg in Syrien geflohen und zu Hunderten im Budapester Bahnhof gestrandet sind.

Twente erzählt die Geschichte in Form eines Dokudramas (Drehbuch: Sandra Stöckmann, Marc Brost). Der Regisseur teilt sich dieses Genre in den letzten Jahren gewissermaßen mit Raymond Ley, ohne allerdings dessen Klasse zu erreichen: Leys Arbeiten, allen voran "Eine mörderische Entscheidung" über die Bombardierung eines Tanklasters in der Nähe von Kunduz (2013), sind in den inszenierten Passagen meist stärker, zumal er regelmäßig mit hervorragenden Schauspielern zusammenarbeitet; Ley dreht im Grunde genommen Spielfilme, die durch dokumentarisches Material ergänzt werden. Zwar hatte auch Twente zuletzt großartige Hauptdarsteller (Mario Adorf als Karl Marx, Thomas Thieme als Uli Hoeneß), aber er ist eher ein Dokumentarist, der Spielszenen nutzt, um die Leerstellen des Archivmaterials zu schließen.

In diesem Fall ist das allerdings besonders interessant, weil "Stunden der Entscheidung" ins Zentrum der Macht vorstößt. Der im Auftrag der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte entstandene Film wäre wegen der Einblicke in den Regierungsalltag auch ohne die ungarische Ebene sehenswert. Zum Glück hat Twente bei der Besetzung der zentralen Rolle auf vordergründige Verblüffungseffekte verzichtet und keines jener Merkel-Doubles gewählt, die sich öffentlich als Doppelgängerinnen inszenieren, sondern mit Heike Reichenwallner eine erfahrene Schauspielerin. Natürlich hat sie sich die Rolle angeeignet, aber sie versucht nicht, die Kanzlerin zu imitieren. Ihre Leistung als sympathische, humorvolle und auch mal herzhaft fluchende Kanzlerin hat maßgeblichen Anteil an der Qualität des Films, denn sie ist ausdrücklich keine Lückenbüßerin. Für die Darsteller um sie herum gilt das eher weniger. Mit Ausnahme von Gerhard Meseke als Peter Altmaier sind die Ähnlichkeiten mit den bekannten Protagonisten des Berliner Polit-Betriebs teilweise nicht mal flüchtiger Natur, sodass ihre Identität oft erst durch die Kombination mit dem Archivmaterial deutlich wird.

Das ist jedoch nicht weiter wichtig, weil neben Reichenwallner/Merkel alle anderen ohnehin nur Stichwortgeber sind. Ungleich bedeutsamer ist die schlüssige Kombination der drei unterschiedlichen Ebenen - Spielszenen, Interviews mit Entscheidungsträgern wie Thomas de Maizière oder Sigmar Gabriel  sowie Ausschnitte aus TV-Sendungen und anderen Quellen - zu einem Gesamtwerk, das der Dramaturgie eines Spielfilms entspricht. Dafür sorgt nicht zuletzt die Konzeption mit den beiden Parallelerzählungen: Während die Kanzlerin in ihrer Limousine quer durch die Republik Termine abarbeitet und sich immer wieder auf den neuesten Stand der Entwicklung in Ungarn bringen lässt, formieren sich dort die Flüchtlinge zum "March of Hope" und wandern über die Autobahn Richtung österreichische Grenze.

Twente hat die ungarischen Szenen so gut rekonstruiert, dass die Übergänge zwischen Schein und Sein fließend sind. Merkels Pendant als Protagonist dieser Ebene ist Mohammad Zatareih (Aram Arami), der zum Anführer des Trecks wird. Auch hier gibt es jedoch eine kleine qualitative Einschränkung: Offenbar wollten die Verantwortlichen die ZDF-Zuschauer nicht mit Untertiteln behelligen, weshalb die Syrer in den Spielszenen fließend deutsch sprechen. Obwohl bekannt ist, wie die Geschichte ausging, ist es Twente gelungen, auch diese Ebene spannend zu gestalten: Die ungarische Regierung bietet den Geflüchteten an, sie mit Bussen zur Grenze zu bringen, aber die Menschen fürchten, dass sie in Wirklichkeit in ein Lager transportiert werden sollen. Gleichzeitig sucht die Kanzlerin in Telefonaten mit den Mitgliedern ihres Kabinetts, mit ihrer wichtigsten Vertrauten, Büroleiterin Beate Baumann (Tilla Kratochwil), sowie mit dem österreichischen Kollegen Werner Faymann (Manfred Callsen) nach einer Lösung.

Die Entscheidung muss Merkel letztlich jedoch allein treffen. Als sie am späten Abend dieses turbulenten Tages endlich in ihrer Privatwohnung zur Ruhe kommt, erlauben sich Buch und Regie die vermutlich einzige künstlerische Freiheit des Films: Die Kanzlerin erinnert sich an die Bilder vom 9. November 1989, als ihre Mitbürger über die Grenze in den Westen strömten. Der Film könnte nun mit einem Happy End schließen: Die Syrer werden am Münchener Bahnhof herzlich von den Deutschen empfangen. Twente fügt jedoch noch einen Epilog an, der daran erinnert, dass die Willkommenskultur irgendwann in ihr Gegenteil umgeschlagen ist; dafür stehen diverse aus dem Off erklingende öffentliche Pöbeleien, allen voran Alexander Gaulands Drohung "Wir werden Frau Merkel jagen".

Leider waren nicht alle Beteiligten zu einem Interview bereit. Bei Merkel ist das nicht weiter schlimm, weil sie so oder so ohnehin permanent präsent ist. Eine klaffende Lücke hinterlässt allerdings Horst Seehofer, was jedoch ins Bild passt: Der damalige CSU-Vorsitzende war am 4. September 2015 auch für die Kanzlerin nicht erreichbar.