Die Menschen, die er sieht, scheinen genauso einsam zu sein wie er selbst: hier ein Herr, der allein durch seine Wohnung tanzt oder mit seiner Eisenbahn spielt, dort eine offenbar alleinstehende Mutter mit ihrem Baby. Besonders gern betrachtet Brock eine junge Frau, die beim Bügeln stets spärlich bekleidet ist. Eines Nachts wird er Zeuge, wie die Mutter auf der Straße von einem Fremden bedrängt wird. Später dringt der Mann in ihre Wohnung ein. Der Beobachter ist überzeugt, dass die Frau ermordet worden ist, doch niemand glaubt ihm, zumal sie am nächsten Morgen wieder auftaucht. Brock ist sich jedoch absolut sicher, dass es sich um eine andere Frau handelt, die dem Opfer bloß sehr ähnlich sieht.
Der Film ist die achte Episode der ZDF-Krimireihe "Spuren des Bösen" mit Heino Ferch als Psychiater, der die Kriminalpolizei immer wieder bei Ermittlungen unterstützt; die deutsch-österreichischen Koproduktionen von Martin Ambrosch (Buch), Andreas Prochaska (Regie) und David Slama (Bildgestaltung) gehören zum Besten, was das Genre hierzulande zu bieten hat. Tatsächlich ist "Sehnsucht" eher als Hommage zu verstehen, zumal die Geschichte ganz eigene Akzente setzt, schließlich ist sie auch die Fortsetzung der herausragenden letzten Episode der Reihe: "Wut" (2018) war ein in jeder Hinsicht ungewöhnlich finsterer Polizeithriller. Am Ende waren die wenigen Überlebenden zutiefst versehrt, an Leib oder Seele oder beidem. Bis auf einen allerdings: Ausgerechnet Kommissar Mesek (Juergen Maurer), Brocks Vertrauter bei der Wiener Polizei, entpuppte sich als größter Unhold von allen. Der von Alpträumen geplagte Psychiater hat jedoch nichts gegen ihn in der Hand, und nach der Sache mit dem angeblichen Mord im Haus gegenüber würde ihm ohnehin niemand mehr glauben: "Ein völlig heruntergekommenes Drogenwrack sieht Gespenster", stellt der Kommissar mitleidlos fest.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Neben Brocks Tochter Petra (Sabrina Reiter), die für Mesek arbeitet und so tun muss, als wisse sie von nichts, gibt es allerdings noch einen weiteren Menschen, der dem Psychiater glaubt, und dies ist eine weitere Parallele zu "Das Fenster zum Hof". Bei Hitchcock hat James Stewart die männliche Hauptfigur gespielt, seine Filmpartnerin war Grace Kelly: Die Verlobte des Helden muss an seiner Stelle in die Höhle des Löwen und wird dort prompt vom Mörder überrascht. Für diesen Part hat sich Ambrosch ein schlüssiges Pendant ausgedacht: Aus Sorge um ihren Vater bittet Petra die wie Brock aus Deutschland stammende und ähnlich ohne Umschweife zur Sache kommende Psychiaterin Brigitte Klein (Katrin Bauerfeind) um Hilfe. Fortan machen sich die beiden Koryphäen einen Spaß daraus, sich gegenseitig zu analysieren, und natürlich bleibt es nicht bei der psychischen Annäherung, selbst wenn sich Brock noch unnahbarer gibt als sonst.
Während Prochaska bei "Wut" alle Register des Thrillers gezogen hat, ist "Sehnsucht" ein gänzlich anderer Film, selbst wenn Slamas düsteres Spiel mit Licht und Schatten gewohnt kunstvoll ist. Die Musik (Matthias Weber, auch er gehört zum festen Stamm) signalisiert zwar schon früh, dass sich was zusammenbraut, aber Spannung kommt erst auf, als Brock die Kollegin ins Nachbarhaus schickt, um DNS-Proben des Babys und der vermeintlichen Mutter zu besorgen; auch hier steht prompt plötzlich der vermeintliche Mörder in der Tür. Das Ergebnis der DNS-Untersuchung und weitere Ermittlungen werfen die Mordtheorie jedoch komplett über den Haufen: Das Baby ist eindeutig das Kind der Frau, der Mann ist Gatte und Vater, die Wohnung gehört dem Ehepaar, und alle zweifeln an Brocks Verstand; außer Brigitte. Gegen Ende wird allerdings auch "Sehnsucht" nicht zuletzt dank der nun donnernden Musik zum Thriller, zumal es im Verlauf des schockierenden Finales zu weiteren Todesfällen kommt.
Anders als Hitchcock erzählen Ambrosch und Prochaska die Geschichte nicht ausschließlich aus der Perspektive der Hauptfigur; trotzdem ist der Transfer mehr als gelungen. Der Held von "Das Fenster zum Hof" ist ein Fotoreporter, also ein Mensch, bei dem ein gewisser Voyeurismus zum Berufsbild gehört. Brock wiederum muss als Psychiater tiefe Einblicke in die menschliche Seele nehmen, ist also, wenn man so will, ebenfalls ein Voyeur, der allerdings ohne technische Hilfsmittel auskommt. Umso interessanter ist das Psychoduell mit der Kollegin, die ihn umgehend als Narzissten und Drama-Queen entschlüsselt. Kein Wunder, dass der Film der Idee, den Eigenbrötler Brock mit einem kessen Gegenentwurf zu konfrontieren, die unterhaltsamsten Szenen verdankt, zumal die beiden recht bald rausfinden, dass sie auf der gleichen Wellenlänge sind: "Whisky?" "Unbedingt."