Weil der deutsche Fernsehfilm größtenteils aus Krimis und Komödien besteht, werden sich vermutlich viele Schauspielerinnen fragen, warum Rollen wie diese so oft an Julia Koschitz vergeben werden. Die Antwort lautet Johannes Fabrick. In den Filmen des österreichischen Regisseurs geht es regelmäßig um existenzielle Herausforderungen, und meist ist Koschitz dabei erste Wahl. In "Der letzte schöne Tag" (2012, ARD; Grimme-Preis für Fabrick) verkörperte sie eine Mutter, die sich das Leben nimmt, in "Pass gut auf ihn auf!" (2013, ZDF) eine unheilbar an Krebs erkrankte Frau, die ihren Mann mit seiner Ex-Frau verkuppeln will, in "Wenn es am schönsten ist" (2014, ZDF) die Freundin eines Mannes, der an Leukämie erkrankt, in "Zweimal lebenslänglich" (2017, ZDF) die Frau eines verurteilten Mörders. Kein Wunder, dass der Name Koschitz auch dann fällt, wenn Fabrick gar nicht beteiligt ist.
Regisseurin Vivian Naefe ("Die wilden Hühner") hat in letzter Zeit zwar vermehrt Komödien à la "Chaos Queens" ("Die Braut sagt leider nein", ZDF 2017) oder Freitagsfilme für die ARD-Tochter Degeto ("Reiterhof Wildenstein", 2019) gedreht, aber natürlich beherrscht sie ernste Stoffe ebenfalls. Auch in solchen Fällen habe ihre Inszenierungen gern eine komische Note, wie etwa bei "Mama geht nicht mehr" (2016, ZDF), eine Tragikomödie mit Mariele Millowitsch als krebskranke Ärztin, die vor dem Tod Frieden mit ihrer Tochter schließen will. "Balanceakt" ist dagegen in erster Linie Drama, weil Maries Dasein völlig aus dem Gleichgewicht gerät. Der Titel ist daher treffend gewählt, denn sie muss ihr Leben neu ordnen und einen Ausgleich zwischen Krankheit, Familie und Beruf finden. Gegenüber ihrer wichtigsten Auftraggeberin erfindet die Architektin immer wieder neue Unpässlichkeiten, und auch ihren Eltern (Ulli Maier, Peter Lerchbaumer) würde sie die Diagnose am liebsten verschweigen. Es ist ihr Mann Axel (David Rott), der bei einem Besuch damit herausplatzt, und das ausgerechnet in dem Moment, als Maries Schwester Kerstin (Franziska Weisz) gerade verkündet hat, sie werde demnächst heiraten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Autorin Agnes Pluch (zuletzt "Die Kinder der Villa Emma"; 2018, ARD) hat unter anderem gemeinsam mit Nikolaus Leytner das Drehbuch zu dessen Drama "Am Ende des Sommers" (2015, ARD) geschrieben, eine mit viel Feingefühl erzählte Geschichte eines jungen Mannes, der erfährt, dass er bei einer Vergewaltigung gezeugt worden ist (mit Julia Koschitz als Mutter). An Leytners Drama "Die Auslöschung" (2013, ARD) war Pluch ebenfalls maßgeblich beteiligt. Dieser Film handelt vordergründig zwar von einer Alzheimer-Erkrankung, ist im Grunde jedoch eine Liebesgeschichte. So ähnlich funktioniert auch "Balanceakt". Wie in "Die Auslöschung" spielt der Krankheitsverlauf eine maßgebliche Rolle, aber das Drehbuch konzentriert sich zunächst auf die Beziehung des Paars. Zunehmende Bedeutung bekommt auch das Verhältnis der beiden völlig verschiedenen Schwestern: Marie hat stets gewusst, was sie wollte, und das auch umgesetzt; Kerstin dagegen führt ein eher unstetes Dasein. Wenn sich die beiden Frauen begegnen, brechen prompt alte Feindseligkeiten durch, aber am Ende ist es doch Kerstin, bei der sich Marie meldet, als sie sich mit Axel gestritten hat. Die Rolle des Lebensgefährten ist ebenfalls vielschichtig: Axel ist Komponist und Musiker, seine Kunst jedoch brotlos. Marie ist die Ernährerin der Familie, und dass sie dies beim Streit betont, trägt maßgeblich dazu bei, dass die Hauptfigur keine makellose Heldin ist. Als sie nicht mehr arbeiten kann, besorgt sich Axel einen wenig befriedigenden Job als Musiklehrer.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass dieser Stoff ausgerechnet Vivian Naefe angeboten worden ist: Ihre Mutter ist einst an den Folgen von Multipler Sklerose gestorben; kein Wunder, dass die Regisseurin das Angebot als "schicksalshaft" bezeichnet. Es ist der Regisseurin umso höher anzurechnen, dass ihr bei der Umsetzung des Drehbuchs ebenfalls ein Balanceakt gelungen ist: weil sie das Auf und Ab der Geschichte aller Tragik zum Trotz vergleichsweise nüchtern erzählt. Für ein MS-Drama enthält der Film zudem einige verblüffend ausgelassene, gar alberne Momente. Weil Kerstin zumindest nach außen die deutlich emotionalere der beiden Frauen ist, verbreitet gerade Franziska Weiz mit der für ihre Verhältnisse ungewohnt fröhlichen Rolle auch dank der Dialoge zudem viel Heiterkeit.
Koschitz hat sich in Gesprächen mit mehreren Betroffenen auf die Dreharbeiten vorbereitet und dabei festgestellt, wie nah Pluchs Drehbuch an der Realität war. Die Frauen, erzählt sie im ZDF-Interview, hätten genau das gleiche durchgemacht wie Marie: "Erst kommt die Abwehr, das Negieren der Krankheit und die Überzeugung, dass man das bisherige Leben trotzdem so weiterführen kann – bis hin zum Zusammenbruch." Dennoch ist "Balanceakt" ein lebensbejahender Film mit positiver Botschaft, die Marie am Ende so formuliert: "Ich lebe weiter. Nicht trotz der Krankheit, sondern mit ihr."