Oier Arregi gibt ihm immer und immer wieder Schwung. Das Pendellot zieht neue Spuren in den darunter aufgeschütteten kleinen Sandhaufen. Mal sind es Kreise, dann wieder gerade Linien. Der Spanier schaut ein bisschen ins Leere, dann verfolgt er die Bewegungen des Pendellots aufmerksam. Oier Arregis Ehefrau und seine beiden Töchter sitzen daneben. Sie geben dem Pendellot zwar keinen Schwung, doch die drei sind nicht minder aufmerksam.
"Die Zeit verrinnt", flüstert Oier Arregi auf Englisch, "dieses Pendel ist statisch und schön zugleich." Er denke über einiges nach, zum Beispiel über die Sonne, die durch die kunstvollen Fenster in den Kirchenraum scheine. Und noch eines hat der junge Mann festgestellt: "Wenn das Pendellot schwingt, ist es wie eine Zeremonie: Die Menschen versammeln sich um den Sandhaufen."
Dieses Pendellot im Chorraum mutet im ersten Moment ungewöhnlich an. Manch ein Besucher bleibt erst einmal mit erstauntem Gesichtsausdruck stehen: Was ist das? Die Auflösung liefert Stephan Kreutz. Er ist Pastor der Bremer Stadtgemeinde "Unser Lieben Frauen", kurz ULF. "Spuren im Sand" heißt dieses noch bis einschließlich 31. August laufende "Sommerprojekt". Gerade in den Ferien, wenn viele Menschen in der Stadt unterwegs sind, möchte ihnen die Gemeinde einen Raum der Ruhe bieten, erklärt Stephan Kreutz die Idee hinter "Spuren im Sand".
Hinter dem Projekt stecke die immer wieder von der Gemeinde aufgeworfene Frage: "Was wollen wir mit unserer Stadtkirche tun?" Der ULF-Pastor sagt: "Eine Stadtkirche nimmt den Rhythmus der Stadt auf, aber singt nicht das gleiche Lied." Dieses Ziel scheint durch das Pendellot erreicht. Während es gerade am Wochenende draußen etwas lauter zugeht, werden die Besucher der Liebfrauenkirche leise. Der Wunsch der Gemeinde in Sachen "Spuren im Sand" ist es laut Stephan Kreutz, dass sich die Menschen "einlassen und berühren lassen und aussprechen, was das Pendellot mit ihnen macht". Das gelingt nicht immer. "Eine kurze, verständliche Doku wäre hilfreich für die vielen Unwissenden", schreibt eine Frau ins ausliegende Gästebuch.
Zur Freude der Gemeinde ist Unverständnis die Ausnahme. Eine 82-jährige Dame schreibt ihr Erlebnis nieder: "Ein kleiner, lieber Junge setzte das Pendel in Bewegung, es bildete Kreise im Sand – erst ganz von außen, dann immer mehr zur Mitte hin, bis es schließlich im Zentrum fast ganz zur Ruhe kam." Die Dame zitiert aus dem Gedicht "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen" von Rainer Maria Rilke: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn." Diese Zeilen berühren Kreutz sehr. Auch mehrere Besucher verharren beim Durchblättern des Gästebuchs über den Rilke-Zeilen.
Zwei Menschen, die sich still auf jeweils einen der Stühle im Chorraum gesetzt haben, sind Johann Bösche und Paula Schmidt aus Bremen. Sie haben gerade an einer Führung durch die Böttcherstraße teilgenommen. Ein Abstecher in die Liebfrauenkirche sei ihnen da als das Richtige erschienen, meinen sie. Die beiden Bremer finden "Spuren im Sand" interessant. Aber selbst das Pendellot zu schwingen, nein, das sei nicht ihr Ding. Johann Bösche und Paula Schmidt beobachten das Geschehen lieber und machen sich ihre Gedanken. "So etwas ohne Ordnung zu machen, das muss man sich trauen", wirft Johann Bösche nach einem Moment des Schweigens ein. Dabei sind die älteren Besucher mutiger als die jungen. Sie halten das Geschehen lieber mit ihren Smartphones fest.
Zwischendurch fragt ein Herr, ob man das Pendellot in Bewegung setzen dürfe. Er traut sich – Johann Bösche und Paula Schmidt geben sich wieder ihren Gedanken hin. Während seine Lebensgefährtin schweigt und nachdenkt, fällt Johann Bösche etwas zu den Linien im Sand ein: Sie seien wie Lebenslinien. Als Jugendlicher ziehe der Mensch große Kreise, diese würden im Alter immer enger. "Man ist ja nicht mehr so mobil", setzt Johann Bösche schmunzelnd hinzu, "irgendwann bist du nicht mehr da."
Auch Barbara und Michael Callenter aus dem nordirischen Belfast schauen dem Pendellot eine ganze Zeit lang zu. Sie diskutieren leise über den tieferen Sinn. Michael Callenter fühlt sich an das Foucaultsche Pendel erinnert. Damit erregte der französische Physiker Léon Foucault im Jahr 1851 Aufsehen, denn er wies damit die Erdrotation nach.
Michael Callenter fällt aber noch mehr auf: Es ist das Zusammenspiel mit dem Sonnenlicht, wie es ebenso Oier Arregi wahrnimmt. Dieses Phänomen beschreibt auch ULF-Pastor Stephan Kreutz: "Spuren im Sand" korrespondiere mit den Kirchenfenstern, die der Maler Alfred Manessier in den Jahren 1966 und 1970 für die Liebfrauenkirche gestaltete. Viele Besucher kommen ausschließlich ins Gotteshaus, um dessen Werke zu bewundern. "Das Pfingstfenster ist in voller Bewegung", freut sich Stephan Kreutz, "die Farben spiegeln sich im Sand wider."