Seit dem Siegeszug der AfD gerade in Ostdeutschland versuchen Zeitungen und Nachrichtenmagazine, diesen Erfolg zu ergründen. Trotzdem ist Thomas Bärschs Dokumentation sehenswert, weil sie eine kompakte Analyse bietet und die Interviewpartner viele Aspekte klug auf den Punkt bringen. Die Spurensuche beginnt im Herbst 2014, als die "Pegida"-Gründer erstmals zum Protest gegen die vermeintliche Umwandlung Deutschlands in ein Kalifat aufriefen. Teilnehmer versicherten, sie seien "ganz normale Leute". Schon damals hat der Theologe und Bürgerrechtler Frank Richter in seiner Funktion als Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung die seiner Ansicht nach oberflächliche und falsche Berichterstattung der westlichen Medien kritisiert. Fernsehen und Zeitungen hätten die "Pegida"-Demonstranten so lange in die rechte Ecke gedrängt ("Nazis in Nadelstreifen"), bis sie tatsächlich rechts geworden seien.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Richter ist Gründer der "Gruppe der 20", die im Oktober 1989 beauftragt wurde, mit den Dresdener Behörden über die politischen Forderungen der Regime-Gegner zu verhandeln. 2018 hat er als Repräsentant eines rot-rot-grünen Bündnisses nur knapp die Bürgermeisterwahl in seiner Heimatstadt Meißen verloren. Sein Pendant in Bärschs Film ist der "Pegida-Versteher" Werner Patzelt. Der einstige Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden ist mittlerweile pensioniert und wurde vor einem Jahr überregional bekannt, weil er als einer der ersten für eine Koalition zwischen CDU und AfD plädierte.
Die Aussagen dieser beiden Männer ergänzen sich zu einem stimmigen Gesamtbild, das Bärsch mit viel Archivmaterial illustriert. Erste Station der Zeitreise ist das Jahr 1989, als Helmut Kohl den Sachsen versprach, er werde die "Landsleute nicht im Stich lassen"; natürlich haben sie ihm zugejubelt. Der Kanzler aus dem Westen wird noch heute verehrt, weil er die deutsche Einheit auf die Agenda gesetzt habe. Umso größer ist die Enttäuschung über die Kanzlerin aus dem Osten; auch das erklärt, warum Angela Merkel bei ihren Wahlkampfauftritten in Sachsen derart angefeindet worden ist.
Aber Bärsch hat nicht nur Stimmen und Stimmungen gesammelt, sondern auch Daten und Fakten, mit denen er belegen will, warum sich viele Menschen in den schon längst nicht mehr neuen Bundesländern immer noch als "Deutsche zweiter Klasse" fühlen: Löhne und Renten seien nach wie vor niedriger als im Westen, in den großen Unternehmen gebe es nur wenige ostdeutsche Führungskräfte, die Leitungen der Universitäten seien ausnahmslos in westlichdeutscher Hand. Anders gesagt: Es mag einen wirtschaftlichen Aufschwung geben, aber viele Menschen partizipieren nicht daran. Was schon in den Neunzigerjahren nur mit Murren akzeptiert worden sei, sagt Richter, führe heute zu offener Empörung.
Immer wieder ergänzt Bärsch die Theorie um Beispiele aus der Praxis, und die Verbitterung seiner Gesprächspartner lässt sich in der Tat gut nachvollziehen, wenn sich zum Beispiel die ehemaligen Mitarbeiter der Margarethenhütte in der sächsischen Oberlausitz daran erinnern, wie die Treuhandanstalt damals unter teilweise dubiosen Bedingungen selbst florierende Firmen verscherbelt hat. Die neuen Besitzer, selbstredend aus dem Westen, hatten sie oftmals nur gekauft, um potenzielle Konkurrenz im Keim zu ersticken, und ließen die Betriebe kaputtgehen. Die Treuhand hatte die Aufgabe, die Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen; die Folge waren drei Millionen Arbeitslose. Richter sagt: Wo permanent Gewinner gesucht würden, gebe es zwangsläufig auch viele Verlierer.
Ein weiterer Aspekt in Bärschs Argumentationskette ist die in der DDR nie vollzogene Aufarbeitung des Faschismus’: Alle Bürger wurden 1949 von einem Tag auf den anderen Antifaschisten. Weil der Schulunterricht indoktrinierende Funktion hatte und die Kinder auf den Sozialismus eingeschworen wurden, sollte Politik nach der "Wende" aus den Schulen rausgehalten werden, wie sich der frühere sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) im Film erinnert. Der Bildungspolitiker Thomas Colditz (CDU) hat den Übergang damals begleitet und weiß heute, dass es ein Fehler war, politische Bildung auszublenden. Offenbar sind damals alle von der Prämisse ausgegangen, Demokratie sei toll, das lerne man von selbst. Richter gibt allerdings zu bedenken, dass die Demokratie in der alten Bundesrepublik anders als in der DDR nach der Wiedervereinigung mit dem Wirtschaftswunder einhergegangen sei. Außerdem hat ein großer Teil der ostdeutschen AfD-Wähler seine Schulzeit in der DDR absolviert. Damals haben die Schüler gelernt, dass westliche Massenmedien immer auch Klassenmedien und somit Sprachrohre des Kapitalismus seien; von diesem Wissensstand aus ist es nur ein kleiner Schritt zur "Lügenpresse". Im Anschluss beleuchtet die Dokumentation "Störfall AfD" die öffentlichen und nicht-öffentliche Aktivitäten der "Alternative für Deutschland".